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Matthias Sammer liest seine Stasi-Akte

Der frühere Dynamo-Spieler hatte beim Wachregiment Felix Dzierzynski unterschrieben. Jetzt erklärt er, was das bedeutet.

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© Archiv: Volker Santrucek

Eine Stasi-Aktie wird präsentiert. Sport Bild legte sie Matthias Sammer vor. Der 50-Jährige hatte seine Fußballkarriere einst bei Dynamo Dresden begonnen und war unter seinem Vater Klaus zum Oberligaspieler aufgestiegen. „Sammers Stasi-Akte“ titelt die am Mittwoch erschienene Wochenzeitung und „enthüllt, was auf 115 Seiten steht. Sammer erklärt seine Rolle im Wachregiment.“

Matthias Sammer ist derzeit als Experte bei Bundesliga-Übertragungen bei Eurosport zu sehen.
Matthias Sammer ist derzeit als Experte bei Bundesliga-Übertragungen bei Eurosport zu sehen. © dpa

Im Interview mit der Sport Bild redet der 74-fache Nationalspieler, der in beiden deutschen politischen Systemen zu Auswahleinsätzen kam, über die damaligen Verhältnisse und wieso er als Unteroffizier beim Wachregiment Felix Dzierzynski geführt worden war, dem militärischen Arm der Stasi. Es ist ein Exkurs in DDR-Zeiten und Strukturen, die die Geschichte längst getilgt hat. Die Akte hatte die Stasi über ihn angelegt. Es gibt darin – außer einem zweiseitigen Lebenslauf – keine Berichte, die er geschrieben hat.

Matthias Sammer bewegte sich als Dresdner Fußballer auf militärischem Geläuf im weitesten Sinne. 1953 war nicht nur die Dresdner Sportgemeinschaft Dynamo gegründet worden. Stasi-Chef Erich Mielke hatte auch als Vorsitzender bis zur Wende die Herrschaft über die Sportvereinigung Dynamo übernommen. Unter deren Dach agierten die Klubs von Staatssicherheit, Volkspolizei und Zoll. „Das System war, wie es war, und es brachte für jeden Einzelnen seine Zwänge mit sich“, erklärte Sammer die Verhältnisse. „Da ich das wusste, musste ich das akzeptieren und mich darauf einstellen.“

Sammer hatte ein großes Ziel: Guten Fußball spielen. Dafür hätte ihm der Wehrdienst in die Quere kommen können. Für diese Fälle gab es die Verpflichtungen beim Wachregiment, wo die Spieler gelistet wurden, aber nicht dienen mussten. „Es war im Prinzip ein Alibi, um keinen aktiven Wehrdienst leisten zu müssen“, sagte Sammer auf die Frage, warum er dort eingetreten sei. Die Alternative wäre gewesen: Wehrdienst absolvieren, Dynamo Dresden verlassen. „Grundsätzlich wäre es dann mit dem Fußball vorbei gewesen, was einem Karriere-Ende bei den damaligen Verhältnissen gleichgekommen wäre.“

Sammers Wachregiment-Aktivitäten beschränkten sich laut Aussagen im Sport-Bild-Interview auf den Ein- und Austritt. „Wir musten am ersten Tag nach Berlin“, heißt es da, „dort mussten wir für die Fotos schön gerade sitzen und einige Formalitäten erledigen“. Ähnlich lief es beim Austritt: Formale Akte. „Das waren meine einzigen zwei Tage, in denen ich mit dem Wachregiment zu tun hatte.“ Mit Nachdruck stellt er klar: „Ich hatte in der ganzen Zeit weder eine Uniform an noch eine Waffe in der Hand.“ Aber er hatte seine Armeezeit so hinter sich gebracht.

„Das hat sich keiner getraut“

Auf die Frage, ob jemals versucht worden sei, ihn als Inoffiziellen Mitarbeiter der Stasi zu werben, sagt Matthias Sammer: „Nein, das hat sich keiner getraut. Man wusste je vor dem Hintergrund meiner Familie, dass die Wahrscheinlichkeit hoch war, dass die eine Absage erwartet.“

Vater Klaus Sammer hielt in politischen Fragen Distanz, nicht erst nach dem Verlust seines Postens als verantwortlicher Oberligatrainer 1986. Im Trainingszentrum Meißen muss er sich wie strafversetzt gefühlt haben, degradiert. „Mein Vater war nicht zu kriegen und in die klassischen Systeme nicht integrierbar“, erklärt Sohn Matthias die besondere Familien-Konstellation. „Hätte er sich verweigert, wäre ihm vermutlich nichts anderes übrig geblieben, als in seinen erlernten Beruf als Dreher zurückzukehren. Doch er war nun mal mit Herz und Seele Trainer.“

Über verbotene Westkontakte setzten sich Sammers hinweg, trafen den Besuch heimlich bei Verwandten in Gröditz und hofften, „dass es niemand mitbekommt“. Darüber geredet wurde in der Mannschaft auch nicht. „Über Dinge wie Politik oder Verwandtschaft hast du in diesem Rahmen nicht geredet“, gibt Matthias Sammer im Interview einen Einblick in das einstige Mannschaftsklima. „Ich wusste, dass dies gefährlich ist. Davor hatte mich auch mein Vater gewarnt. Er ließ mich wissen, dass alles, was ich in diese Richtung sage, falsch interpretiert werden könnte. Dementsprechend war alles, was ich in diesem Kreis von mir gegeben habe, ziemlich harmlos.“

Dass eine Reihe Dynamo-Spieler als Inoffizielle Mitarbeiter (IM) geführt wurden, will Matthias Sammer nicht verurteilen: „Es ging damals in der Zeit darum, sich an Situationen anzupassen. Manche IMs wurden ganz einfach auch erpresst, wenn die Stasi etwas gegen sie in der Hand hatte.“ Auch das Wissen um die Namen der Dynamo-IMs ändert nichts an seiner Meinung. „Ich habe sie in guter Erinnerung“, sagt er in der Sport Bild, „und weiß, dass sie mir in ihrer IM-Tätigkeit nicht hätten schaden wollen“.

Das geht auch aus den zitierten Berichten hervor. So hieß es zur charakterlichen und moralischen Einschätzung, er habe „seine Treue und Verbundenheit zu unserem Staat im kapitalistischen Einsatz unter Beweis gestellt“, sei „immer sauber und korrekt als Vertreter unserer sozialistischen Sportorganisation“ aufgetreten.

Westkontakt nach Europapokal

Einmal wurde es für Matthias Sammer ernst. Nach dem Ausscheiden im Europacup gegen den VfB Stuttgart war es im Hotel Belevue zur Begegnung mit Trainer Ari Haan und Geschäftsführer Ulrich Schäfer gekommen. Beim Bier gab es Nettigkeiten, dass er auch in der Bundesliga eine gute Figur machen würde. Die Begegnung blieb nicht unbeobachtet, es gab Fragen von der Stasi, ob es Fluchtgedanken gibt. „Ich habe denen gesagt: Ein rational denkender junger Mensch trifft doch keine aberwitzigen Absprachen in einer Hotelbar, wo er nicht weiß, wer alles mitguckt und -hört“, sagte Matthias Sammer im Buch „Dynamo Dresden. Legenden. Schicksale. Geschichten.“

Ein halbes Jahr später öffnete sich nicht nur für Matthias Sammer mit dem Fall der Mauer das Tor in die große Fußball-Welt. Und doch muss er seine DDR-Vergangenheit immer wieder neu erzählen.