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Helden, Träumer, Vagabunden

Die 27. Karl-May-Festtage lockten rund 30 000 Besucher in den Lößnitzgrund. Dort traf Orient friedlich auf Okzident.

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© André Wirsig

Von Dominique Bielmeier

Radebeul. Einen Meter groß ist Karakus nur, dafür aber zwei breit. Er hat Ohren wie ein Hase und einen Schädel wie ein Ochse – Steine könnte man darauf zermahlen, sagt Jusuf Naoum und hebt vor den drapierten Stoffen, die ein orientalisches Zelt andeuten sollen, dramatisch die Arme. Das wirklich Besondere an Karakus aber ist seine Nase: Einen Meter ist sie lang, weil die Elefanten, bei denen er aufgewachsen ist, sie täglich ein Stück länger gezogen haben.

Märchen aus dem Orient gab der libanesische Kaffeehauserzähler Jusuf Naoum auf dem Geschichtenbasar zum Besten.
Märchen aus dem Orient gab der libanesische Kaffeehauserzähler Jusuf Naoum auf dem Geschichtenbasar zum Besten. © Norbert Millauer
Der Überfall auf den Santa-Fe-Express war wie in jedem Jahr ein Höhepunkt des Festes.
Der Überfall auf den Santa-Fe-Express war wie in jedem Jahr ein Höhepunkt des Festes. © Norbert Millauer
In Fort Henry konnten sich die Besucher in einem der zahlreichen Saloons auf dem Festgelände stärken.
In Fort Henry konnten sich die Besucher in einem der zahlreichen Saloons auf dem Festgelände stärken. © Norbert Millauer

Die Kinder staunen, ihre Eltern, die neben ihnen auf den Holzbänken im kleinen, weißen Festzelt sitzen, lächeln wissend. Sie haben den freundlichen älteren Mann mit dem blumigen Hemd und den gelben Brillengläsern längst als gerissenen Märchenerzähler enttarnt.

Den einzigen Kaffeehausgeschichtenerzähler Deutschlands nennt der Libanese, der 1963 nach West-Berlin kam, sich selbst. Seit 1983 ist der ehemalige Physiotherapeut freier Schriftsteller und als orientalischer Märchen- und Geschichtenerzähler unterwegs. Auf dem „Geschichtenbasar“ beim Karl-May-Fest sind seine Märchen ein Höhepunkt für viele Besucher.

Den Karakus – den „orientalischen Till Eulenspiegel“ – hat sich der 77-Jährige selbst ausgedacht. Dieser Spaßmacher soll für einen dicken, mürrischen König, der den ganzen Tag nur Hühner frisst, auftreten. Wenn er es schafft, ihn zum Lachen zu bringen, bekommt er Gold und einen Palast; wenn er versagt, wartet der Tod auf ihn. Die Kinder halten den Atem an, und auch die Musik, die eben noch von den Balkantänzern nebenan herüberschallte, ist wie aus Respekt verstummt.

Orient, Balkan, Cowboy und Indianer: Bei den 27. Karl-May-Festtagen im Lößnitzgrund haben sich wieder die unterschiedlichsten Welten die Hand gegeben. Wer glaubt, dass Orient und Okzident unvereinbar seien, der wird hier eines Besseren belehrt. „Helden, Träumer und Vagabunden“ war das Fest in diesem Jahr überschrieben – und diese Gestalten findet man immerhin überall auf der Welt, nicht nur in den Romanen von Karl May.

In Fort Henry, das unweit vom Geschichtenbasar mit seinen fliegenden Teppichen beginnt, lungern ein paar Halunken herum. Der Besucher erkennt sie von den Fahndungsfotos, die auf dem Festgelände angebracht sind. Der Lange mit der finsteren Miene wird sich später in der Westernstadt Little Tombstone eine wilde Schießerei mit einem anderen Cowboy liefern. Keine Überlebenden. Das freut den Bestatter, der sogleich eifrig mit dem Maßband zur Stelle ist. In Fort Henry versucht er derweil, ein paar Besucher zu überzeugen, sich mal probeweise in einen Sarg zu stellen. „Heute schon an morgen denken – ich muss doch auch von etwas leben!“

Die meisten Besucher haben sich nicht lumpen lassen und sind stilecht im Westerndress angeritten, entweder mit dem eigenen Pferd oder im Lößnitzdackel, der nun „Santa-Fe-Express“ heißt. Den weitesten Anritt – 220 Kilometer – haben Holm Opitz, Jan Ebert und Daniel Schmied aus Adorf im Vogtland. Damit sind sie Sieger des diesjährigen Sternritts.

So bietet sich beim Powwow in der Kleinen Feder ein besonderes Bild: Die Vertreter von sechs indianischen Stämmen bringen ihre Kultur scheinbar einem Heer von Cowboys und -girls nahe, so als ließe sich die Zeit tatsächlich zurückdrehen. Besonders beeindruckend ist die Darbietung der Le-La-La-Dancers der Kwakwaka’wakw-Nation aus der kanadischen Provinz British Columbia. Ihre über und über mit bunten Knöpfen bestickten Umhänge legen sie nur ab, um mithilfe von Zedernholzmasken in die Rollen von Raben, Grizzly-Bären oder Bigfoot zu schlüpfen. Der wanderfalkenbedingte Umzug vom Hohen Stein an die Waldlichtung tut dem Powwow übrigens keinen Abbruch. So mancher Besucher erinnert sich vielleicht erst an die gefiederten Untermieter, als die schneeweißen Adlerdaunen aus dem Kopfschmuck zweier Tänzer der Kwakwaka’wakw rieseln. Wenn sie den Boden berühren, soll Frieden zwischen allen Völkern herrschen.

Federn braucht auch Karakus im Märchen von Jusuf Naoum. Damit will er den dicken König kitzeln, um ihn endlich zum Lachen zu bringen. Doch sowohl an den Füßen, als auch unter den Armen, am Bauchnabel und den Ohren missglückt der Versuch. Schließlich kitzelt Karakus den König an der Nase und endlich lacht dieser los – nur, um sogleich tot auf den Boden zu stürzen. „Sein dicker Bauch ging auf und alle Hühner flatterten zu den Bauern zurück“, beendet der Erzähler seine Geschichte. Ob Karakus trotzdem sein Gold und seinen Palast bekommen hat? Die Antwort darauf bleibt Naoum schuldig. Vielleicht ja nur bis zur nächsten Märchenstunde.