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Hautnah bei den Wölfen

Sebastian Koerner kennt das Familienleben in den wilden Wolfsrudeln wie kein anderer. Seine Filme sollen vor allem mit Vorurteilen aufräumen, sagt der Biologe aus der Lausitz.

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© Gernot Menzel

Von Jana Ulbrich

Bautzen. Leo ist jetzt mit Clea zusammen. Gemeinsam sind die beiden Lausitzer in den Westen gegangen. Auf einem Truppenübungsplatz in der Lüneburger Heide haben sie ein ideales Grundstück für sich und ihre Kinder gefunden. Sebastian Koerner kennt die beiden von klein auf. Sie sind ihm quasi schon als Welpen vor die Kamera gesprungen – der neugierige Leo aus dem Seenland-Rudel und die schöne Clea mit der großen Nase, die aus dem Nochtener Rudel stammt. Sebastian Koerner würde die beiden auch ohne DNA-Nachweis erkennen. Seit es wieder wildlebende Wölfe in Deutschland gibt, ist er ihnen auf der Spur. Und wohl kaum ein anderer kommt den Tieren so nahe wie der Biologe und Tierfilmer aus der Lausitz.

Große Schwester: Die Jährlingsfähe vom Nochtener Rudel hilft beim Füttern. Sie hat ihren jüngeren Geschwistern gerade Fleischbrocken vorgewürgt.
Große Schwester: Die Jährlingsfähe vom Nochtener Rudel hilft beim Füttern. Sie hat ihren jüngeren Geschwistern gerade Fleischbrocken vorgewürgt. © Sebastian Koerner
Neugieriger Welpe: Auf dem Truppenübungsplatz in der Lüneburger Heide haben sich die Wölfe an Panzer und Soldaten gewöhnt.
Neugieriger Welpe: Auf dem Truppenübungsplatz in der Lüneburger Heide haben sich die Wölfe an Panzer und Soldaten gewöhnt. © Sebastian Koerner
Sebastian Koerner (54), Biologe, Naturfilmer und Verhaltensforscher
Sebastian Koerner (54), Biologe, Naturfilmer und Verhaltensforscher © Gernot Menzel

Es ist einer dieser nebligtrüben Tage anfang März, an denen es nicht richtig hell wird, ein feuchtkalter Spätnachmittag mit nassen Schneeschauern und Böhmischem Wind, ein Wetter, bei dem kein Hund vor die Türe will. Vielleicht aber ein halbwüchsiger Wolfswelpe, der sich freut, dass es nicht mehr so eisig kalt ist. Sebastian Koerner schaut nach draußen: Es könnte günstig sein heute. Er packt seine Ausrüstung in den Geländewagen: Rucksack, Stativ, Kamera, Tarnzeug. Er will zum Rendezvousplatz des Neustädter Rudels fahren. Der Ort, an dem sich das Leben der Neustädter Wolfsfamilie unmittelbar abspielt, liegt am Rande des Lausitzer Seenlands, nahe an der Landesgrenze zu Brandenburg. Sebastian Koerner kennt diese Stelle gut. Unzählige Male ist er schon hier gewesen. Er kennt die ganze Familie. Vater Karl ist vorletztes Jahr gestorben. Einer der Söhne hat das Territorium jetzt übernommen. Im letzten Frühjahr sind Karls erste Enkel geboren. Alle fünf sind noch da. Und inzwischen dürften auch ihre Geschwister unterwegs sein.

In Familien herrscht ein starker Zusammenhalt

„Wildlebende Wölfe sind sehr soziale Tiere“, sagt Sebastian Koerner. „In ihren Familien herrscht ein starker Zusammenhalt.“ Die Welpen aus dem Vorjahr bleiben als Jährlinge in der Familie, bis ihre jüngeren Geschwister aus dem Gröbsten raus sind. Sie passen auf die Kleinen auf, wenn die Eltern auf Nahrungssuche sind. Sie helfen bei ihrer Erziehung mit und sogar dabei, die jüngeren Geschwister sattzukriegen. Einmal hat Koerner dieses Schauspiel miterleben dürfen. Es sei eines der faszinierendsten Erlebnisse vor seiner Kamera gewesen, erzählt der Tierfilmer: Eine Jährlingsfähe aus dem Nochtener Rudel war mit ihren Eltern auf der Jagd. Man muss wissen, dass Wolfsterritorien riesengroß sind, meistens über 200 Quadratkilometer. In so einem großen Gebiet zu jagen, das würden die Welpen noch nicht schaffen. Deshalb verschlingen die Eltern die Beute und würgen sie den Jungen zu Hause auf dem Rendezvousplatz vor. Und genau so hat es vor Koerners Kamera auch die große Schwester gemacht. Noch nie zuvor ist es gelungen, eine solche Szene zu filmen.

Vollkommen eins mit der Natur

Sebastian Koerner hat seine Ausrüstung in den Wald geschleppt, an die Stelle, an der das Neustädter Rudel wohnt. Zwischen jungen Kiefern und Birken wird er vollkommen eins mit der Natur. Das Tarnzeug, aus dem jetzt nur noch seine Augen und das Kameraobjektiv lugen, machen den 54-Jährigen nahezu unsichtbar. „Die Sachen gibt’s alle im Internet“, erzählt er schmunzelnd, „zwar hergestellt für Paintballspieler, aber für meine Zwecke ebenfalls bestens geeignet.“

Weit aus der Ferne klingt ein Rattern und Dröhnen herüber. „Die Kohlebahn“, erklärt Sebastian Koerner. Einmal, erzählt er, hat er gehört, wie die Welpen mitgeheult haben. Er schaut sich um. Er muss genau spüren, aus welcher Richtung der Wind weht. Wölfe haben einen ausgezeichneten Geruchssinn. Hören und sehen können sie ebenfalls sehr gut. Würden die Altwölfe mitbekommen, dass er hier ist, wäre der ganze Aufwand umsonst. Er sucht sich eine geschützte Stelle, an der er jetzt zwei, drei Stunden möglichst unbeweglich ausharren kann. Vielleicht auch vier oder fünf Stunden. Es kann dauern, die Wölfe vor die Kamera zu bekommen. Wenn überhaupt!

Ein Naturfilmer braucht vor allem viel Geduld. Sebastian Koerner macht das Warten nichts aus. Es gibt so vieles zu sehen, zu hören und zu spüren hier im Wald. Selbst jetzt im Winter. Es ist auch Demut, die er spürt, wenn er hier so sitzt: „Oft denke ich: Das hier ist jetzt mein Job. Was ist das doch für ein großes Privileg, hier in der Natur sein und arbeiten zu können.“ Schon als kleiner Junge wollte der heute der 54-Jährige nichts anderes als Tierforscher und Tierfilmer werden. Reich hat ihn dieser Job bislang nicht gemacht. „Es reicht zum Leben“, sagt, „und das reicht mir.“

Unbeeindruckt von Panzern und Soldaten

Gerade hat Sebastian Koerner sein zweites Großprojekt abgeschlossen: eine 45-minütige Doku über das Leben der wilden Wölfe in Deutschland. Am kommenden Dienstagabend läuft der Film zur besten Sendezeit im Fernsehen. Clea und Leo, die in die Lüneburger Heide ausgewandert sind, gehören zu den Hauptdarstellern. „Wenn man die Wölfe draußen in freier Natur so erlebt, wie mir das vergönnt ist“, sagt der Biologe, „dann würde man sehen, dass sie ein ganz normaler Bestandteil der Natur sind. Das sie in den Kreislauf des Lebens gehören wie andere Tierarten auch.“

Er weiß, dass er sich mit dieser Meinung nicht viele Freunde macht, vor allem nicht hier in der Lausitz. Er weiß, dass immer weniger hier bereit sind, den strengen Artenschutz für die Wölfe zu akzeptieren.

Langsam legt sich Dämmerung über den Wald. Nach und nach verschwinden alle Farben und Konturen. Das ist die Zeit, auf die der Mann hinter der Kamera gewartet hat. Die Wölfe müssten jetzt eigentlich aktiv werden. Sie haben ihr Verhalten an den Lebensrhythmus ihrer Beutetiere angepasst. Es gibt genug Beute hier draußen, sagt Koerner. Die Wildbestände in der Lausitz sind nicht kleiner geworden, seit es hier wieder Wölfe gibt. Auch in einer dicht besiedelten Kulturlandschaft wie dieser könnten es Wolf und Mensch locker miteinander aushalten. Davon ist der Biologe absolut überzeugt.

Gegen die Mär vom bösen Wolf

Als Wissenschaftler kann er sich in diese hoch emotional geführten Debatten ganz pragmatisch und mit seiner Sachkenntnis einmischen. „Wenn Wölfe gelernt haben, auch bestmögliche Herdenschutzmaßnahmen zu überwinden“, sagt er, „dann müssen sie entnommen werden. Ganz klar.“ Weil in solchen Fällen der Wolf zur Gefahr für den Menschen werden kann. „Aber eben nur in solchen“, fügt Koerner hinzu. Und das habe auch gar nichts zu tun mit der Mär vom bösen Wolf.

Gegen die vor allem will er antreten mit seinen Filmen. „Dass Menschen den Wolf von vornherein ablehnen“, sagt er, „das beruht meiner Meinung nach nicht nur auf ungenügendem oder falschem Wissen, sondern oft auch auf irrationalen Gefühlen und Ängsten.“ Aber wie soll ein Mensch diese Ängste denn abbauen? Vielleicht, wenn er erleben und erfahren würde, wie die wilden Wölfe in freier Natur leben, sagt Sebastian Koerner. „Aber gerade das ist ja im Grunde unmöglich.“

Es sei denn, man würde jetzt hier in der Dunkelheit hocken, getarnt bis zu den Fingerspitzen, fröstelnd und inzwischen auch hungrig wie ein Wolf. „Feierabend“, flüstert Sebastian Koerner leise und löst sich vorsichtig aus seiner Umgebung. Erst ein Stück entfernt zieht er das Tarnzeug aus und greift zur Taschenlampe. Vielleicht beim nächsten Mal. Für heute fährt er zurück ins Dörfchen Spreewitz, wo er wohnt und wo seine Familie auf ihn wartet.

„Familie Wolf – Gefährliche Nachbarn?“ heißt die neue Fernsehdokumentation von Sebastian Koerner. Zu sehen ist sie erstmals am kommenden Dienstag, dem 13. März, 20.15 Uhr, im WDR.