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Graffiti aus dem 15. Jahrhundert

Schon früher luden Wände zum Bekritzeln ein. Die Sanierung der Görlitzer Frauenkirchen-Orgel förderte solche Zeugnisse zutage.

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© Pawel Sosnowski/80studio.net

Von Ines Eifler

Margrit Kempgen versucht die Worte zu entziffern: „Diese Schrift ist ...“ Mehr kann auch die Görlitzer Oberkonsistorialrätin und Kennerin der evangelischen Kirchengeschichte nicht lesen. „Das muss ein Fachmann entschlüsseln“, sagt sie. Schon am Aufgang zur Orgelempore der Görlitzer Frauenkirche, am oberen Treppenabsatz finden sich Zahlen, Initialen, manchmal auch ganze Worte, die jemand vor Jahrhunderten mit Rötelstift an die Wände geschrieben hat. Der Name „Christof“ steht da und eine Jahreszahl, die 1618 oder 1688 heißen könnte.

Orgelbauer Christoph Rühle hat die Orgel der Frauenkirche gründlich gereinigt. Am 14. Mai erklingt sie zum ersten Mal wieder bei einem Konzert.
Orgelbauer Christoph Rühle hat die Orgel der Frauenkirche gründlich gereinigt. Am 14. Mai erklingt sie zum ersten Mal wieder bei einem Konzert. © nikolaischmidt.de
Hinter der Orgel der Frauenkirche liegt die Turmhalle, in der viele Rötelinschriften gefunden wurden. Von dort aus war der Blick zum Altar bis ins 18. Jahrhundert frei.
Hinter der Orgel der Frauenkirche liegt die Turmhalle, in der viele Rötelinschriften gefunden wurden. Von dort aus war der Blick zum Altar bis ins 18. Jahrhundert frei. © Pawel Sosnowski/80studio.net

„Warum jemand die Wände bemalte, ist nicht genau bekannt“, sagt Margrit Kempgen. „Aber mit Sicherheit sind das keine Hinterlassenschaften der Baumeister.“ Die nämlich haben ihre Steinmetzzeichen gut erkennbar in die Steine der Stützpfeiler gemeißelt. Die Vielzahl der Rötelinschriften aber stamme von Kirchenbesuchern, sagt Margrit Kempgen. Vielleicht von Pilgern aus vorreformatorischer Zeit, die auf diese Weise ihren Weg dokumentierten. Vielleicht, weil jemand deutlich machen wollte: „Ich war hier.“ Vielleicht, weil damals schon freie Flächen dazu verlockten, sich darauf zu verewigen. „Wände zu beschmieren ist ja keine Erfindung der Neuzeit“, sagt Margrit Kempgen. Und Rötel, ein auf trockenen Wänden gut haltbares Gemisch aus Ton, Kreide und Hämatit, war damals ein Stift, den jeder benutzte.

Schon bei der Sanierung der Frauenkirche in den Jahren 2001 bis 2011 wurden einige Rötelinschriften entdeckt und als sogenannte „Sichtfenster“ auf den renovierten Wänden stehengelassen. Manche finden sich ziemlich weit oben an Stellen, die schon im Mittelalter nur mit einer hohen Leiter erreichbar waren. Eine ganze Wand voller Rötelstift aber hat nun die Sanierung der oberen Turmhalle zutage gefördert.

Dieser hohe Raum liegt zwischen der Orgel und den Fenstern über dem zweitürigen Hauptportal der Kirche und wird durch den riesigen Blasebalg der Orgel dominiert. In die Hauptsanierung der Kirche konnte die Turmhalle nicht einbezogen werden, weil dafür die Orgel „im Weg“ war. Für deren Erneuerung gab es damals keine Fördermittel. In den vergangenen vier Monaten aber konnte das in den 1970er Jahren gebaute Instrument der Zittauer Firma Schuster für 80 000 Euro saniert werden. Ein großer Teil der Kosten wurde aus Bundesmitteln gezahlt, für die sich der CDU-Bundestagsabgeordnete Michael Kretschmer eingesetzt hatte. Den Eigenanteil zahlte der Kirchbauverein.

Für diese Sanierung bauten Orgelbauer Christoph Rühle und seine Mitarbeiter viele Teile der Orgel aus, um sie gründlich zu reinigen und damit wieder gut spiel- und hörbar zu machen. Damit war der Weg zur Turmhalle und deren Sanierung frei. Restaurator Rayk Grieger untersuchte die Wände genau, fand auf der untersten von drei Farbschichten die vielen Rötelinschriften und präparierte einen Teil davon für die Nachwelt.

Wie aber kamen die Kritzel von Kirchenbesuchern in die so verborgene Turmhalle? „Der Raum war 300 Jahre lang frei zugänglich“, sagt Margrit Kempgen. Die erste Orgel wurde erst Ende des 18. Jahrhunderts eingebaut. Die Empore mit ihrer spätgotischen Brüstung aber gab es schon seit dem Bau der 1473 geweihten Frauenkirche. Mitsamt der Turmhalle könnte sie als Loge für die Mitglieder der Bürgerstiftung gedient haben, die sich damals um die Belange dieser besonderen Kirche vor den Toren der Stadt kümmerte und sich somit besonders gute Plätze verdient hatte. „Von der Turmhalle aus war der Blick frei bis zum Altar“, sagt Margrit Kempgen. „Auch die Kronleuchter verdeckten damals noch nicht die Sicht.“

Aber wer hier oben saß, saß auch geschützt. Margrit Kempgen stellt sich vor, dass in der Herberge, die gegenüber stand, auch ziehende Handwerker übernachteten und zu katholischen Zeiten meist in die Messe der Frauenkirche gingen. Falls sich die jungen Leute da langweilten, könnten sie die Wände bekritzelt haben.

Ende dieser Woche beenden die Orgelbauer ihre Arbeit in der Frauenkirche. Dann wird der Raum dahinter wieder geschlossen und nur noch bei Führungen zugänglich sein. Die Orgel aus der Zittauer Firma Schuster aber erklingt bald wieder. Das erste Konzert kündigt die evangelische Innenstadtgemeinde für den 14. Mai an.