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Gibt es zu viele Problemfamilien im Landkreis?

Die Jugendhilfe-Kosten sind explodiert. Im Interview erklären Vertreterinnen des Landkreises, wie sie das ändern wollen.

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© Norbert Millauer

Frau Hille, Frau Heise, gibt es zu viele Problemfamilien im Landkreis?

Kati Hille: Die Frage ist eher: Wo haben wir die meisten sozialen Brennpunkte? Die liegen natürlich in den größeren Städten: Freital, Pirna und Heidenau.

Warum sind denn die Kosten in der Jugendhilfe explodiert?

Hille: Die Analysen zeigen, dass die Kosten seit 2011 stetig gestiegen sind. In der Zeit gab es zum einen deutlich mehr Fälle. Zum anderen sind die einzelnen Fälle viel teurer geworden. Am meisten Geld kostet es den Landkreis, wenn Kinder in Heimen untergebracht werden müssen. Um dies zu verhindern, müssen wir uns verstärkt um Pflegefamilien bemühen, da die Bedingungen für die Kinder im familiären Umfeld besser und die Kosten weitaus niedriger sind.

Wie wollen Sie die Finanzen in den Griff bekommen?

Hille: Es geht nicht darum, an den Hilfen für die Kinder und Jugendlichen zu sparen, sondern so effizient wie möglich, am konkreten Bedarf orientiert, zu helfen. Denn die Fälle wird es immer geben. Die Dauer der Hilfeleistung müssen wir dabei genauso im Blick behalten, wie die Komplexität der Hilfen, die im Einzelfall eingesetzt werden. Ziel ist, dass jeder einzelne Fall weniger Kosten verursacht und dennoch dem Kind oder dem Jugendlichen optimal geholfen wird. Bei den Gesamtkosten im Jugendamt wollen wir uns dem sächsischen Durchschnitt wieder annähern. Und was die Prävention angeht: Obwohl der Kreis mehr Geld für die Prävention ausgegeben hat, sind die Ausgaben für die Jugendhilfe trotzdem gestiegen.

Wie wollen Sie mit der Präventionsarbeit künftig umgehen?

Irina Heise: Prävention heißt heute, möglichst früh anzufangen. Es gab jetzt ein sehr gutes Projekt in den Kitas. Dabei sollen Eltern in ihrer Verantwortung für die Erziehung ihrer Kinder gestärkt werden. Das klingt ganz simpel. Aber wenn wir nicht dort schon anfangen, die Eltern für ihre Kinder stark zu machen, sitzen sie alle zusammen ein paar Jahre später bei uns im Jugendamt. Prävention mit 14-Jährigen dürfte zu spät sein.

In welchen Fällen muss denn das Jugendamt vor allem eingreifen?

Heise: Immer dann, wenn das Wohl des Kindes gefährdet ist. Meist ist das die klassische Vernachlässigung. Unsere Sozialarbeiter kommen beispielsweise in Wohnungen, die nicht beheizt sind und in denen nur noch eine Glühbirne brennt. Wir werden auch alarmiert, wenn Kinder psychisch und körperlich belastet und wenn sie sexuell missbraucht werden. Diese Übergriffe begehen erschreckenderweise meist Personen aus dem unmittelbaren Umfeld der Kinder und Jugendlichen. Das passiert in sämtlichen Bildungsschichten.

Im Jahr 2015 wurden 163 Kinder außerhalb des Landkreises betreut, 20 Prozent mehr als im Jahr davor. Warum ist diese Zahl so hoch? Fehlen Hilfsangebote im Landkreis?

Hille: Zum Teil ja. Für einige Fälle, zum Beispiel bei heftigen psychischen Problemen, gibt es Spezialeinrichtungen außerhalb des Kreises. Wir haben auch nicht zu jedem Zeitpunkt genug freie Heimplätze. Gerade für die kleinen Kinder fehlen Pflegefamilien. Die Jugendhilfe will vermeiden, Null- bis Sechsjährige in Heime zu geben.

Heise: Auf der anderen Seite ist es für manche Kinder gut, wenn sie eine Zeit lang aus ihrem gewohnten Umfeld, wie den Verwandten und der Clique, herauskommen. Manchen tut eine räumliche Distanz auf Zeit gut. Zum bedarfsgerechten Ausbau von Kapazitäten müssen wir mit den freien Trägern intensiver ins Gespräch kommen und konkret den Bedarf anzeigen. Das heißt, die bisherige Jugendhilfeplanung komplett überarbeiten.

Warum ist es in manchen Fällen nicht gut, die Kinder außerhalb des Landkreises unterzubringen?

Hille: Wenn das Kind weiter weg von der Familie lebt, kommt es zu Beziehungsabbrüchen. Das Kind braucht länger, sich in der neuen Umgebung zurechtzufinden. Je weiter ein Kind weg wohnt, umso länger dauert erfahrungsgemäß die Hilfe. Oberstes Ziel ist, dass das Kind so schnell wie möglich in die Familie zurück kann. Dazu ist es aber notwendig, dass eine enge Zusammenarbeit zwischen dem Träger, der Familie und dem Jugendamt möglich ist. Weite Wege erschweren das.

Die Entwicklung seit 2011 ist doch sicher nicht vom Himmel gefallen. Was sind die Gründe für die schweren strukturellen Probleme im Kreisjugendamt?

Hille: Genau das war meine Frage, als ich 2015 für den Sozialbereich Beigeordnete wurde. Der Kreistag hat immer zum Ende des Jahres eine überplanmäßige Ausgabe in der Jugendhilfe beschlossen. Deshalb gab es 2014 das erste externe Gutachten der Firma Rödl und Partner. Ende 2015 haben wir begonnen, im Jugendamt erste Veränderungen umzusetzen. Jetzt haben wir mit dem zweiten Gutachten eine tiefgründigere Analyse vorliegen. Die Absprachen mit den freien Trägern, klare Zielvorgaben und eine Kontrolle, ob diese gemeinsam definierten Ziele auch eingehalten werden – das alles muss besser werden.

In der Jugendhilfe ist viel Geld im Umlauf. Der Landrat hat im Kreistag gesagt, dass die freien Träger bisher immer bekommen haben, was sie wollten. Sind die Träger zu teuer?

Hille: Wir haben in der Vergangenheit zu wenig detailliert mit den Trägern über den konkreten Bedarf in der Jugendhilfe gesprochen, sprich: Welche Leistungen kauft sich der Kreis eigentlich ein? Es heißt ja immer, manche Träger seien teurer als andere. Meist leisten die teureren aber auch mehr als günstigere. Aber: Nicht jedes Kind braucht auch die komplexeste Hilfe.

Heise: Ich denke, dass die meisten Träger gern weiter mit dem Kreis arbeiten wollen.

Im September wurde der langjährige Jugendamtsleiter versetzt, seitdem führen Sie, Frau Heise, das Amt kommissarisch. Nun sagt der Landrat, die fünf Referatsleiter im Jugendamt sollen ausgewechselt werden. Ist dieser Weg richtig?

Hille: Wir wollen das Jugendamt und die Referate umstrukturieren, auch mit den Empfehlungen, die Rödl und Partner uns gegeben haben. Das wird sicher ein harter Weg, innerhalb der Verwaltung aber auch mit den freien Trägern. Aber es gibt keine Alternative. Wir wollen Veränderung und neue Ideen. Die bekommt man aber meist nur mit neuen Köpfen. Es kann aber durchaus sein, dass nach der Neubesetzung auch jetzige Referatsleiter wieder eine Führungsposition übernehmen.

Heise: Unsere Mitarbeiter sind fachlich alle gut aufgestellt. Im sozialen Dienst arbeiten nur Diplom-Sozialpädagogen. Besser werden muss aber das wirtschaftliche Denken.

Was muss das Jugendamt intern noch besser machen?

Hille: Die Anamnese, also die Aufnahme des Falles durch die Jugendhilfe, muss vereinheitlicht werden. Unsere Sozialarbeiter und die Träger müssen mit den Kindern und ihren Familien klare Ziele vereinbaren und den Weg zum Ziel regelmäßiger überprüfen. Nur dann kann erkannt werden, ob die Hilfe wirkt und gegebenenfalls gegengesteuert werden muss.

Wieso gab es diese Arbeitsweise bisher so nicht? Wie erklären Sie das den Bürgern, die das Jugendamt bezahlen?

Hille: Rödl und Partner hat die Defizite, die ich bereits vermutete, mit dem Gutachten klar herausgestellt. Diese Defizite müssen jetzt abgestellt werden. Ich denke, es führt uns nicht weiter, jetzt noch einmal in die Vergangenheit zu schauen. Der Blick geht jetzt nach vorn. Frau Heise und ich wollen nun mit einer klaren Führungsstruktur im Jugendamt die Empfehlungen aus dem Gutachten umsetzen. Dies muss gemeinsam mit den Mitarbeitern des Jugendamtes erfolgen.

Geben Sie uns bitte einen Ausblick: Wie wird sich die Jugendhilfe entwickeln?

Hille: Finanziell gesehen müssen sich die Maßnahmen in den kommenden fünf Jahren im Haushalt des Landkreises widerspiegeln. Als erster Schritt gehört dazu, dass die Jugendhilfeplanung mit der Kita-Bedarfsplanung, dem Schulnetzplan und anderen planerischen Prozessen innerhalb des Landratsamtes verknüpft wird.

Ist der Finanzplan der Gutachter realistisch? Sie sagen, dass das Jugendamt bis 2021 insgesamt gut elf Millionen Euro einsparen kann.

Hille: Unser Ziel ist, bei den Kosten der Jugendhilfe wieder den sächsischen Schnitt zu erreichen. Der liegt zum Beispiel bei den Hilfen zur Erziehung als eine der Leistungen der Jugendhilfe bei derzeit 5,2 Millionen Euro. Unser Landkreis gibt hier jährlich etwa 9,4 Millionen Euro aus. Die Gesamtaufwendungen der Jugendhilfe im Jahr 2017 betragen rund 58 Millionen Euro.

Die Fragen stellten Domokos Szabó und Franz Werfel.