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Fleischereien sind der Jugend wurst

Körperlich harte Arbeit macht das Handwerk nicht attraktiv. Nur ein Grund, warum Fleischer keinen Nachwuchs finden.

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© Repro/Robert Michalk

Von Michael Rothe

Das hatte sich Gerhard Walde ganz anders vorgestellt. Damals, 1975, als er die von seinem kranken Vater gepachtete gut 200 Jahre alte Fleischerei in Räckelwitz bei Kamenz übernahm. Sein Sohn, notfalls auch ein anderer, sollte die Tradition fortführen. Und er, der neben Schweiß, Zeit und Herzblut auch Zehntausende Euro in Gemäuer und Maschinen gesteckt hatte, erhoffte sich von der Übergabe eine Altersversorgung. Jetzt wird er den Betrieb Ende des Jahres schließen – mangels Nachfolger.

Thomas Keller, Landesinnungsmeister des sächsischen Fleischerhandwerks
Thomas Keller, Landesinnungsmeister des sächsischen Fleischerhandwerks

Walde ist kein Einzelfall. Mit der Fleischerei Beuchel gingen 2016 gleich drei Filialen in Dresden, und die Fleischerei Schulze fand dort keinen Nachmieter für die Fleischtheke in einem citynahen Edeka-Markt. Und die Landfleischerei Müller in Cavertitz bei Riesa hat gerade ihren Laden dichtgemacht, lebt nur noch von Wochenmärkten – „weil es an Verkäuferinnen und Gesellen fehlt“, sagt Meister Dirk Müller.

Zum Jahreswechsel hatte die Dresdner Handwerkskammer in Ostsachsen 257 Fleischereibetriebe mit rund 3 400 Beschäftigten gezählt. Vor 15 Jahren waren noch 317 Unternehmen eingetragen, 1991 sogar 407. Ähnlich dramatisch ist der Schwund bei den Azubis mit nur noch 45 Fleischerlehrlingen und 73 angehenden Fachverkäuferinnen. 2002 hatte es rund dreieinhalbmal so viele Berufseinsteiger gegeben.

„Die Jugend hat zu wenig Mut“, sagt Gerhard Walde. Sein Sohn sei schon vor langer Zeit in eine andere Richtung gegangen. „Und ein junger Mann, den ich bis zum Meister ausgebildet habe, ist kurz vor der Übernahme abgesprungen“, so der 68-Jährige. Da sich trotz intensiver Suche kein anderer gefunden habe, werde er den Betrieb schließen. Den neun Mitarbeitern wolle er noch bei der Jobsuche helfen, aber mit der Fleischerei samt Lebensmittel-Vollsortiment verliere das Dorf den letzten Laden. „Ich sehe für die Landversorgung in Deutschland schwarz“, sagt Walde. Jedes Jahr gingen Hunderte Betriebe verloren.

Die Dresdner Kammer hat keine Daten, wie viele Fleischereien mangels Nachfolger verschwunden sind – auch nicht, wie viele in den nächsten Jahren einen Übernehmer finden müssen. „Unabhängig vom Gewerk suchen in den nächsten fünf bis zehn Jahren etwa 3 500 bis 4 000 Handwerksbetriebe einen Nachfolger“, heißt es von dort.

Sachsens Fleischer-Innungs-Verband sieht „etwa drei Prozent des Gesamtbestands“ auf der Suche. Laut Verbandschefin Marina Holm „hat die Politik einen großen Anteil daran, dass Fleischereien nicht weitergeführt werden“. Die Aufzeichnungspflicht sei ein enormer Zeitfaktor – von Produktionsnachweisen bis zum Arbeitszeitgesetz, sagt sie. Zwar sei das über EU-Recht hinausgehende Verbot von Fleischverarbeitung in Schlachträumen aufgehoben worden, so die Verbandschefin. Der Schritt sei aber zu spät gekommen. Wegen der Mehrbelastung würden viele Betriebe nicht mehr schlachten, gebe es in Sachsen mit der Färber GmbH in Belgern-Schildau bei Torgau nur noch einen Schlachthof. Hinzu komme „das ewige Gezerre um Hygieneampeln“. „Ein Plus an Information für den Verbraucher ist nicht erkennbar“, sagt die Geschäftsführerin. „Betriebe werden aber schon für kleine Fehler an den Pranger gestellt.“ Solche Widrigkeiten bringen nicht nur familiären Nachwuchs auf Abwege. „Was die Neugründungen im zulassungspflichtigen Fleischerhandwerk betrifft, sind echte Neugründungen eher die Ausnahme“, antwortete die Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage von Bündnis 90/Die Grünen.

Der Schwund hat Folgen für die Organisation. Vor einem Jahr gab es im Freistaat noch ein Dutzend Fleischerinnungen. Nach Fusion der vier größten und Auflösung zweier weiterer sind es nur noch sieben freiwillige Zusammenschlüsse, darunter die Innungen Dresden und Nordost-Mittelsachsen. Eine angedachte Landesinnung wurde durch Zwänge der Kreisgebietsreform und das Kirchturmdenken einzelner regionaler Wortführer verhindert.

Der Deutsche Fleischer-Verband zählt im Freistaat pro 100 000 Einwohner 38 Fleischerfilialen. Beim Primus Thüringen sind es 46, in Bayern 43, in Nordrhein-Westfalen ganze 16 – und im Bundesschnitt 27. Daher könne man nicht von Fleischerei-Sterben sprechen, sagt Dresdens Kammerchef Andreas Brzezinski. „Zudem ist es ein Trugschluss, nur die Anzahl der Betriebe als Indikator für die Leistungsfähigkeit heranzuziehen“, so der Hauptgeschäftsführer. Die Stimmung im hiesigen Lebensmittelhandwerk allgemein habe sich in den vergangenen Jahren weiter verbessert. Mehr als die Hälfte der Unternehmen schätzten ihre Lage als gut ein, „so viele wie noch nie“. Die Mitarbeiterzahl steige – wie Umsätze, Aufträge und die Preise.

So ist es gar nicht die wirtschaftliche Lage, die Fleischereien zur Aufgabe zwingt. „Hauptursache ist die wachsende Bürokratie“, sagt Landesinnungsmeister Thomas Keller. Alles Mögliche müsse schriftlich festgehalten werden, „da kommt man vor lauter Papierkram gar nicht mehr zum Wurstmachen“, schimpft der 57-Jährige, der in fünfter Generation eine Familienfleischerei in Bautzen führt. Großbetriebe, die noch dazu und im Gegensatz zum Handwerk von der Energieumlage befreit seien, könnten das abfedern. Immer neue Gebühren, aufgebauschte Skandale, teils übertriebener Verbraucherschutz und schwindende Wertschätzung für eine körperlich harte Arbeit täten ein Übriges, dass das Handwerk trotz einer Imagekampagne immer weniger Interessenten findet.

„Sicher ist das nicht einfach für die Betriebe“, sagt Volkmar Heinrich von der Gewerkschaft NGG. Doch der Chef für die Region Dresden–Chemnitz kennt weitere Ursachen für die Personalnot: In Sachsens Fleischindustrie gebe es keinen Flächentarif. Die meisten Beschäftigten, selbst Fachkräfte, seien zum Mindestlohn eingruppiert, und der liege in der Branche mit 8,60 Euro bis zum Herbst noch unter den gesetzlichen 8,84 Euro. 1 534 Euro brutto im Monat für Vollzeitkräfte seien keine Motivation. 80 Prozent der Verkäuferinnen arbeiteten in Teilzeit – „die treffen sich dann alle auf der Wohngeldstelle“.

Im Handwerk wirke zwar ein Flächentarif nach, aber die Leute seien auch dort „nicht vom Leben verwöhnt“. Die Chef-Argumente gegen Mindestlohn-Bürokratie nennt Heinrich „Unsinn“. „Das ist eine Excel-Tabelle, dreimal drücken, aus – das kann doch wohl kein Akt sein“, so der Gewerkschafter. Er frage sich, wie bislang die Arbeitszeiten dokumentiert worden seien. Mancher habe wohl eher „Schiss, weil er nun unbezahlte Überstunden aufschreiben muss“. Statt zu jammern, solle das Handwerk besser seine Tugenden hervorheben: Qualität und Know-how. Er sehe eine Bereitschaft der Leute, dafür auch mehr Geld auszugeben.

Derweil stirbt in Räckelwitz mit der Fleischerei auch ein Stück sorbische Handwerksgeschichte. „Ich wünschte mir einen Aha-Effekt bei den Leuten“, sagt Gerhard Walde. Sie sollten sich nicht nur zu Ostern und Weihnachten des Handwerks erinnern. Der scheidende Meister hat seinen Frieden geschlossen. Die Branche nicht.