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„Es war meine Hybris“

Thomas Middelhoff, der Ex-Vorstand von Bertelsmann und Arcandor, saß wegen Untreue und Steuerhinterziehung drei Jahre in Haft. Die SZ sprach mit ihm darüber.

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© Wolfgang Steche/VISUM / Volker Hartmann/Foto S.

Herr Middelhoff, im November 2017 durften Sie das Gefängnis verlassen. Was schätzen Sie jetzt in Ihrem Alltag?

Die Möglichkeit, jederzeit einfach nach draußen gehen zu können. Kurz nachdem ich aus der Haft entlassen wurde, bin ich verreist. Ich war 40 Jahre meines Lebens ständig unterwegs, ständig auf Flughäfen. Aber da war ich an der Passkontrolle aufgeregt wie ein kleiner Junge. Der Beamte erkannte mich, er lächelte und sagte freundlich: „Herr Middelhoff, kommen Sie, es ist vorbei, es passiert jetzt nichts mehr.“ Das hat mich sehr berührt.

Sie mussten während Ihrer Haftzeit Privatinsolvenz anmelden. Wovon bestreiten Sie jetzt Ihren Lebensunterhalt?

Die Privatinsolvenz läuft noch gut drei Jahre. Die Einnahmen aus meinem Buch „A 115 – Der Sturz“ habe ich schon 2012 an eine Investorengruppe abgetreten, die mich damals unterstützt hat. Ich erhalte keinen Cent. Entweder bleibt das Geld bei der Investorengruppe oder bei meinem Insolvenzverwalter. Derzeit lebe ich vom pfändungsfreien Betrag meiner Pension.

Gibt es neue berufliche Ambitionen des Managers Middelhoff?

Nein, nicht als Manager. Das Schreiben bereitet mir sehr viel Freude und ist momentan auch nicht ganz erfolglos.

Erfüllen Sie sich mit dem Schreiben einen Jugendtraum?

Ja, das ist manchmal schon verrückt. Mit 16, 17 Jahren wollte ich Schriftsteller werden. Ich habe übrigens als Student Münster als Studienort gewählt, weil man dort Betriebswirtschaft und Publizistik parallel studieren konnte. Nach zwei Semestern habe ich allerdings Publizistik abgegeben, weil ich innerhalb von acht Semestern mein Studium beendet haben wollte. Das wäre mit einem Doppelstudiengang nicht machbar gewesen. Dann hat mich meine Liebe zum Buch und zum Lesen zu Bertelsmann geführt. Als Manager hat man naturgemäß wenig Zeit, auch zum Lesen. Während meiner Haft hatte ich dann plötzlich wieder Gelegenheit und habe Bücher quasi verschlungen.

Sie haben in der Haft angefangen zu schreiben. War das Therapie?

Im ersten Moment war es ganz sicher eine Möglichkeit, das Erlebte zu verarbeiten und zu verstehen. Doch dann habe ich mir überlegt, eine Biografie im Gefängnis zu verfassen, wäre das völlig falsche Signal. Und so ist mit dem Buch „A 115 – Der Sturz“ ein autobiografischer Bericht entstanden. Es geht mir dabei weniger um mich, sondern um das große Anliegen, endlich eine Justizreform anzuschieben und um das kleinere Anliegen, die Suizidkontrolle, so wie sie derzeit in mehreren Bundesländern praktiziert wird, sofort abzustellen.

Bei Ihnen wurden die nächtlichen Zellenkontrollen im Abstand von 15 Minuten auch dann noch fortgesetzt, als eine Psychologin keine Suizidgefahr mehr sah. Warum?

Die Suizidgefahr hat nie bestanden. Das habe ich auch dem Haftrichter gesagt. Dass sich mein fünf Jahre jüngerer Bruder das Leben genommen hat, ist kein Grund. Ich weiß, wie eine Familie darunter leidet. Bis heute. Das hätte ich meiner Frau und meinen fünf Kindern niemals antun können. Warum man die Kontrollen dennoch fortführte, ist eine der vielen offenen Fragen. Der Umgang mit dem Thema ist ein Beweis dafür, wie unser Justizsystem funktioniert. Es geht ihnen immer nur um die Abwehr von Kritik. So wurde auch in meinem Fall zunächst gesagt, die von mir beschriebenen Kontrollen würde es gar nicht geben. Meine Anwälte forderten dann Einsicht in die Haftakte, und dort waren die Kontrollen dokumentiert. Alle 15 Minuten wurde nachts fast sechs Wochen lang das Licht in meiner Zelle angeschaltet und ich musste mich durch eine Bewegung, beispielsweise durch das Heben des Arms, bemerkbar machen. Die Folge war unmittelbar akuter Schlafmangel und mittelbar der Ausbruch der Autoimmunerkrankung Lupus. Beides habe ich in den Briefen an meine Familie immer wieder dokumentiert. Dort war mein sich drastisch verschlechternder Gesundheitszustand ein zentrales Thema. Es war durch die Postkontrollen also auch dem Haftrichter bekannt. Abgesehen davon bieten die Kontrollen im Abstand von 15 Minuten keinen wirksamen Suizidschutz. In einer Zelle gibt es genügend Möglichkeiten, sich selbst zu töten. Auch die sächsische Justiz hat das im Fall des mutmaßlichen Terroristen Dschaber al-Bakr in Leipzig leidvoll erfahren müssen.

Welche Alternativen sehen Sie?

Es gibt Möglichkeiten. Videoüberwachung ist die eine. Sie ist selten, muss von einem Richter angeordnet werden und wird als massiver Eingriff in die Persönlichkeitsrechte gewertet. Ich hätte einer solchen Überwachung sofort zugestimmt. Wenn Sie zwei Wochen nicht geschlafen haben, sagen Sie zu allem Ja. Selbst zu Fuß- oder Handfesseln. Und selbst eine dauerhafte Überwachung der Vitalfunktionen ist heute technisch problemlos möglich.

Sie fordern eine Justizreform. Gibt es darauf Reaktionen?

Ich habe erst vor Kurzem einen Brief von dem Leiter des psychologischen Dienstes einer JVA erhalten. „Sie haben den Mut aufgebracht, Wahrheiten auszusprechen, den ich nie habe aufbringen können und dürfen“, heißt es dort. Es gibt aber auch viele Häftlinge, deren Angehörige, aber auch Anwälte, Richter und Verbände, die mir sagen, dass sie dankbar sind für das Buch und die Diskussion, die damit angestoßen wurde. Es geht mir darum, die Strukturen zu kritisieren, unabhängig von den Beamten im Vollzug, die teilweise mit großem Engagement dort arbeiten und den Häftlingen bei ihrer Resozialisierung helfen wollen. Sie arbeiten aber in einem total veralteten System, das darauf ausgelegt ist, Menschen zu brechen.

Die Abläufe stammen noch aus den 1940er-Jahren. Sie entsprechen weder unserem heutigen gesellschaftlichen Verständnis noch unserem Sozialverhalten. Erst recht nicht spiegeln sie unsere zunehmend multikulturelle Gesellschaft wider. Die Häftlinge aus anderen Staaten überfordern unser Justizsystem und werden von ihm gleichsam überfordert. Da gibt es Sprachbarrieren.

Hinzu kommt die mangelnde Vorbereitung der Häftlinge vor ihrer Entlassung auf unsere Kommunikationsgesellschaft. Ihnen ist der Umgang mit digitalen Medien in der Haft untersagt. Wer länger als zehn Jahre einsitzt, wird Mühe haben, sich in unserer Gesellschaft wieder zurechtzufinden. Zudem gibt es in vielen Gefängnissen, insbesondere Westdeutschlands, einen massiven Sanierungsstau. Auch Essen ist davon betroffen. War mein Zellennachbar auf Toilette, kam das, was er entsorgt hat, in meinem Becken wieder hoch.

Mittelalterlich muten auch die Behandlungsmethoden Ihrer Immunerkrankung an, die Sie beschreiben. Haben Sie je erwogen, rechtliche Schritte gegen den Anstaltsarzt einzuleiten?

In der Tat, ich wurde zunächst wegen einer Mykose, also Fußpilz, behandelt. Dann folgte eine Salbenkur für meine Füße und Hände. Ich bekam Mülltüten zum Überziehen. Frisch gesalbt, können Sie sich vorstellen, dass man damit mehr in die Zelle zurück rutscht als läuft. Die Haftärzte sollen nicht behandeln, sie sollen die Simulanten herausfiltern. Das ist legitim. Es gibt sicher Insassen, die mit dem Verweis auf eine Haftunfähigkeit versuchen, ihre Strafe zu umgehen oder Hafterleichterungen zu erwirken. Aber echte Patienten müssen die Chance auf eine Behandlung haben. Die Frage, wer in einem solchen wie in meinem Fall haftet, muss im Rahmen einer Amtsträgerhaftungsklage geprüft werden. Der Arzt, der mich behandelt hat, hat die JVA Essen übrigens mittlerweile verlassen, wie die Anstalt selbst bestätigte.

Warum fordern Sie Schwerpunktkammern, die sich auf Wirtschaftsdelikte spezialisieren?

Die Themen, die im Wirtschaftsstrafrecht behandelt werden, sind sehr komplex geworden im Laufe der Jahre. Firmen wie Arcandor agieren üblicherweise international. Das fängt schon bei den Verträgen an, die alle auf Englisch abgefasst sind. Ich selbst stand vor einer Wirtschaftsstrafkammer, bei der der Vorsitzende Richter kein Wort Englisch sprach. Er fand trotz Dolmetscher auch nicht den Zugang zu ausländischen Zeugen.

Was sagen Sie den Kritikern, die in Ihrem Buch Demut vermissen?

Ich denke schon, dass ich in dem Buch sehr reflektiert und auch selbstkritisch erzähle. Mich erreichen auch immer wieder Briefe und Mails von Lesern, die mich als Mensch wahrnehmen, der offen zu seinen Fehlern steht. Das tue ich auch bei den Vorträgen an Universitäten oder auf dem Kirchentag, zu denen ich nun häufiger eingeladen werde. Diese Vorträge sind eine sehr schöne und auch zeitfordernde Aufgabe.

Abgesehen von dem Schlafentzug durch die regelmäßigen Zellenkontrollen, was war der schmerzlichste Moment in der Haft?

Die ersten Stunden nach der Verhaftung im Gerichtssaal. Meine Frau und meine Kinder durften sich nicht von mir verabschieden. Ich wurde eingeschlossen. Mit meinem Blackberry habe ich auch alle meine Kontakte, alle Telefonnummern abgegeben, war sämtlicher Kommunikationswege beraubt. Sie sitzen da, eingeschlossen auf zehn Quadratmetern, können die kleinsten Dinge nicht mehr selbst entscheiden. Sie müssen anfragen und warten. Das ist für einen Manager, der gewohnt war, Entscheidungen, teilweise im Minutentakt, zu treffen, nur sehr schwer auszuhalten. Zudem quälten mich die Gedanken, wie es wohl meiner Familie geht, die das Urteil und die Haft genauso überraschend getroffen hat wie mich.

Rückblickend gefragt: Gibt es Entscheidungen als Vorstandsvorsitzender bei KarstadtQuelle, später Arcandor, die Sie heute anders treffen würden?

Würde mich heute jemand fragen, ob man in einem Restrukturierungsunternehmen Vorstände in seine heimische Villa in St. Tropez einlädt, auch wenn das Zeit und Kosten spart, würde ich dringend abraten. Auch am Kamener Kreuz würde ich lieber im Stau stehen, als den Helikopter zu nehmen. Da habe ich definitiv die falschen Signale ausgesandt. Ich würde jedem Manager raten, einen Compliance Officer zu benennen, der die wesentlichen Entscheidungen von Aufsichtsrat und Vorstand auf ihre Wirkung überprüft. Für eine Festschrift bin ich mit zwei Jahren und sieben Monaten Haft bestraft worden. Es wären keine 30 Sekunden gewesen, einen entsprechenden Vorstandsbeschluss herbeizuführen und im Protokoll festzuhalten. Es war meine Hybris, zu glauben, ich kann entscheiden. Allein.

Gespräch: Ines Mallek-Klein.