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Einmal Sibirien und zurück

Eine russlanddeutsche Familie hat Deutschland wieder verlassen. Doch nach zwei Monaten Russland geben sie auf.

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© Rostislaw Alijew

Von Klaus-Helge Donath, SZ-Korrespondent in Moskau

Familie Martens war eine Sensation. Als Eugen und Luisa im Dezember im Rahmen eines russischen Rückführungsprogramms in die alte Heimat zurückkehrten, rissen sich Moskaus Medien um die Familie aus Nordrhein-Westfalen. Im Herbst hatten die Eheleute den Entschluss gefasst, mit den Kindern nach Sibirien zurückzukehren und eine neue Existenz aufzubauen.

Das Holzhaus im sibirischen Dorf Kyschtowka.
Das Holzhaus im sibirischen Dorf Kyschtowka. © Rostislaw Alijew

Anfang der 90er-Jahre waren Jewgeni – so hieß Eugen damals – und Luisa als Russlanddeutsche in die Heimat der Vorväter ausgewandert. Sie lernten sich aber erst in Deutschland kennen. Im Winter brachen sie nun wieder auf. Russland war entzückt, begeistert wurden die Heimkehrer aufgenommen. Zwar kehrt immer mal wieder jemand aus dem Westen zurück, doch sind das eher Einzelfälle.

Großfamilie Martens nahm auch gleich alle Kinder mit, zehn sind es an der Zahl. Daraus sprach nicht nur Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Auch der Glaube an unkomplizierte Lebensbedingungen in der alten Heimat war darin enthalten. Behörden und Medien präsentierten die Musterfamilie denn auch als lebendigen Beweis für die Richtigkeit russischer Politik. Moskau geißelt seit Jahren den angeblichen Werteverfall im Westen und ruft sich selbst zum Hort traditioneller Werte aus. Vor allem Christentum und Familie gilt es zu schützen. Dass außer Heterosexualität jede andere Orientierung abgelehnt wird, versteht sich von selbst.

„Der Kindergarten lud zu einer Veranstaltung über kindliche Sexualität ein. Pädagogen denken sich Doktorspiele aus. Jeder darf jeden berühren, dafür gibt es sogar einen Raum, in dem die Kinder ungestört sind“, meinte Eugen gegenüber russischen Medien. Mädchen würden gar ermutigt, sich Geschlechtsgenossinnen zuzuwenden, sagte der 45-Jährige entrüstet. In Deutschland hätte jedes Kind ein Anrecht auf eine eigene sexuelle Identität, klagte der Möbeltischler.

In Deutschland gehörte Eugen zu einer kleinen Sekte, der „Organischen Christus-Generation“, die die widerspruchslose Unterwerfung unter Gott predigt. Sexualkundeunterricht lehnen die Sektenmitglieder ab. Kurzum: Sodom und Gomorrha. Für die Überzeugung wurde Eugen in Deutschland schon mal in Polizeigewahrsam genommen. Tochter Melitta hatte er nicht am Sexualkundeunterricht teilnehmen lassen.

Solche Erzählungen fallen in Russland auf fruchtbaren Boden. Dort ist eine Mehrheit überzeugt, die Welt werde vom Sittenverfall heimgesucht. Und wo junge männliche Flüchtlinge nichts zu tun haben, weil sie nicht arbeiten dürften, könne er seine Kinder guten Gewissens nicht mehr unbeaufsichtigt auf die Straße lassen, meinte Eugen. So zog er eben nach Russland. Genauer: in das Dorf Kyschtowka, 540 Kilometer nördlich von Nowosibirsk in Sibirien.

Ohne Strom und fließendes Wasser

Die Repatriierungsbehörde zahlte anstandslos 130 000 Rubel (rund 2 100 Euro) Eingliederungshilfe. In Kyschtowka zog die Familie in ein Holzhaus, das 20 Jahre leer stand. Dach und Außenwände sind undicht und mit Löchern übersät. Aus allen Ecken zieht es. Strom und fließend Wasser gibt es in der Siedlung nicht.

Die Dorfbewohner nahmen die neuen Zuwanderer indes herzlich auf. Sie strickten Pullover, warme Strümpfe und dicke Mützen. Um den seltsamen Nachbarn über den Winter zu helfen, teilten sie noch Eingelegtes und Eingemachtes mit den Deutschen, die es ausgerechnet an jenen Ort verschlug, den sie lieber heute als morgen verlassen hätten. Drei Viertel der Einwohner sind seit dem Zweiten Weltkrieg aus dieser Region abgewandert.

Eugen träumte von einem eigenen Bauernhof. Erwerb von Grund und Boden erwies sich in Sibirien als schwierig. Keine Bank war bereit, ihm einen Kredit einzuräumen. Dann wollte sich Eugen noch einmal im alten Beruf als Möbeltischler versuchen. Holz ist in der Umgebung reichlich vorhanden. Wieder warnten ihn neue Bekannte: Wer soll die handgefertigten Möbel in unserer Einöde kaufen? Bis zur nächsten Bahnstation sind es mindestens 100 Kilometer und rund um Kyschtowka gibt es keine asphaltierten Straßen.

Im Februar erfasste zu guter Letzt noch eine Kältewelle Kyschtowka. Das Thermometer sank auf minus 40 Grad, während die Familie weiter auf Matratzen auf dem Boden kauerte. Noch immer war auch das Haus nicht wetterfest. Als das Dorf nach dem Feiertag des Vaterlandsverteidigers Ende Februar allmählich wieder zu sich kam, blieb es bei Martens still. Bei Nacht und Nebel hatten sie sich davongeschlichen. Ihr Ziel – Deutschland.