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„Einmal Hartz IV, immer Hartz IV““

Thomas Kersting und Steffen Poller beschäftigen Menschen, die viel Pech im Leben hatten. An der Arbeit gibt es auch Kritik.

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© Claudia Hübschmann

Die beiden Diplom-Sozialpädagogen Thomas Kersting und Steffen Poller sind Geschäftsführer der Gesellschaft für Soziales und Umwelt. Sie arbeiten mit Menschen, die ausgegrenzt sind, sich zurückgezogen und die Achtung vor sich selbst verloren haben. Manche aber verfolgen die Tätigkeit der Gesellschaft sehr kritisch.

Herr Kersting, wer ist Ihr Klientel?

Thomas Kersting: Grob zusammengefasst sind es Menschen, die sehr viel Pech im Leben hatten. Es sind Langzeitarbeitslose, die meist Alkohol- und Drogenprobleme haben. Manche haben auch Straftaten begangen. Es gehört aber beispielsweise der Dachdecker dazu, der kaputte Knie hat und nicht mehr gebraucht wird.

Herr Poller, ist es Pech, wenn man alkohol- und drogenabhängig ist?

Steffen Poller: Nein, natürlich nicht. Doch wir beobachten bei solchen Menschen immer wieder eine Abwärtsspirale. Erst werden sie arbeitslos, denn verlieren sie die Wohnung, vernachlässigen die Hygiene, weil sie keine eigene Wertschätzung mehr haben. Irgendwann kommen dann Alkohol und Drogen dazu. Wir haben hier Leute dabei, die waren 25 Jahre nicht beim Zahnarzt. Natürlich können wir die Leute nicht zum Arzt tragen, aber wir machen ihnen Mut, sich wieder selbst zu schätzen und zu achten.

Selbstachtung durch Arbeit?

Thomas Kersting: Natürlich. Wir haben verschiedene Projekte, doch die sind im Grunde nur Mittel zum Zweck. In erster Linie sollen sich die Leute wieder an einen geregelten Tagesablauf gewöhnen. Da gehört das zeitige Aufstehen dazu ebenso wie so simple und für uns selbstverständliche Tätigkeiten wie das tägliche Zähneputzen.

Steffen Poller: Wir haben hier Menschen dabei, die sind jahrelang nicht aus der Wohnung herausgekommen, haben sich nur vom Wohnzimmersessel in die Küche und zurück bewegt. Mit einem mussten wir regelrecht erst mal wieder das Laufen üben. Manche sind es auch nicht gewöhnt, die Tür hinter sich zuzumachen, weil das jahrelang andere für sie erledigt haben.

Sie meinen, die waren im Gefängnis?

Thomas Kersting: Ja. Viele sind aus der Gesellschaft herausgefallen, nehmen nicht mehr teil am gesellschaftlichen Leben, haben sich abgekapselt. Sie leben in ihrer eigenen Welt, kommunizieren nicht mehr außerhalb ihres Milieus. Arbeit ist bei ihnen als Gut nicht mehr verankert. Es betrifft zwar nur drei Prozent der Bevölkerung, aber auch ihnen wollen wir helfen, diese Welt aufzubrechen. Es geht darum, dass sie nicht dauerhaft aus der Gesellschaft herausfallen.

Gelingt es, die Leute wieder zu integrieren?

Steffen Poller: Ja, wenn natürlich auch nicht in jedem Fall. Wir bringen sie dazu, eine Entgiftung und Langzeittherapie zu machen, sind bei der Jobsuche behilflich, machen Anti-Aggressionstraining.

Wie finanziert sich die Gesellschaft?

Thomas Kersting: Unser Partner ist das Jobcenter des Landkreises Meißen, das uns die Leute vermittelt, und die Projekte bezahlt.

Ein solches Projekt war, im Kindergarten Barnitz eine Holzeisenbahn zu bauen. Daran gab es teils heftige Kritik, weil es hieß, Sie würden Handwerksbetrieben die Arbeit wegnehmen. Stimmt das?

Thomas Kersting: Nein, natürlich nicht. Nehmen wir das ganz konkrete Beispiel. Die Holzeisenbahn war nach 20 Jahren verschlissen. Weder die Gemeinde noch der Träger der Einrichtung hätten das Geld gehabt, eine neue zu kaufen. Sie wäre also abgerissen und ersatzlos entsorgt worden. Wir haben niemandem einen Auftrag weggenommen.

Steffen Poller: Wir arbeiten wirtschaftsneutral, kommen keinem Betrieb ins Gehege. Ich finde es aber wichtig und richtig, dass die Handwerkskammern ein Auge darauf haben. Es wurde und wird ja auch Schindluder getrieben mit Ein-Euro-Jobs und damals mit den Ich-AGs. Da wurden Handwerkern und Firmen mit Steuergeld tatsächlich Aufträge weggenommen oder die Preise verdorben. Doch für kleine Firmen ist jeder Euro wichtig. Wir können uns da reindenken, sind wir doch selbst ein kleiner Verein.

Wie klein denn?

Steffen Poller: Insgesamt gibt es 15 Vereinsmitglieder. Wir haben unseren Sitz in Riesa und in Meißen.

Haben Sie Sorge, dass Ihnen das Klientel ausgeht?

Thomas Kersting: Nein, und ich füge dazu: leider. Denn unser Klientel reproduziert sich selbst. Soll heißen: Einmal Hartz IV. immer Hartz IV. Ohne jetzt alle über einen Kamm zu scheren: Viele Kinder sehen es doch von ihren Eltern, dass die lange schlafen, nicht arbeiten gehen, dennoch einigermaßen gut leben, rauchen, trinken, den ganzen Tag vor dem Fernseher sitzen. Sie wachsen so auf, sie kennen es nicht anders. Wenn man sie dann fragt, was sie mal werden wollen, ist die Antwort manchmal: „Hartz IV“.

Das Gespräch führte Jürgen Müller