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Einiges Görlitz

Die Kundgebung für den Industriestandort gerät zu einem Bekenntnis zu Stadt und Region: Die Menschen wollen hier ihre Zukunft gestalten.

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© nikolaischmidt.de

Von Tilo Berger und Frank Seibel

Um zwölf Uhr mittags steigt die Spannung. Nicht nur an den beiden Traditionsfabriken, die an diesem Freitag im Mittelpunkt stehen, sondern auch in der Görlitzer Innenstadt. Die meisten Geschäfte haben zumindest ein Plakat im Schaufenster oder an der Eingangstür hängen: Schließt euch an, sagen die Plakate mit den Schriftzügen von Siemens und Bombardier. Aber selbst schließen, das können nicht alle. „Wir gehen alle mit“, sagt der Verkäufer beim Optiker am Postplatz. „Dann müssen die Kunden halt mal eine Stunde warten.“ Schräg gegenüber, bei C & A, hängen auch die Plakate, aber die Verkäuferinnen müssen Kompromisse machen. „Wir würden gern schließen, aber wir dürfen nicht“, sagt eine und verweist auf die Konzernleitung.

Ab kurz nach zwölf Uhr Mittag sammeln sich die Menschen bei Siemens und bei Bombardier. In der Lutherstraße rollt ein Traktor durch das Werktor, ganz in weiße Plane gehüllt – die Nase des Traktors zu einer Turbine geformt, mit der Aufschrift „Energy from Görlitz“. Und vorn auf der Nase ein großer roter Kreis mit dem Slogan: „Keep Görlitz alive“ – im Weltkonzern muss auch der Protest in der Weltsprache vorgetragen werden.

Im Anhänger hinter dem Traktor hat ein Dutzend Männer Aufstellung genommen. Wie schon am Tag Mitte November, als die Schließungspläne verkündet wurden, haben sie große Stahlfässer als Trommeln vor sich stehen und werden über eine Stunde lang den Rhythmus vorgeben für den größten Demonstrationszug, den die Stadt seit September 1990 gesehen hat – damals, noch vor der offiziellen Wiedervereinigung versprach Bundeskanzler Helmut Kohl den Menschen im Osten blühende Landschaften. Und lange Zeit standen das Turbinenwerk und der Waggonbau als Sinnbild für die Modernisierung der Wirtschaft in der Region; als Sinnbild für den Aufschwung, den es neben dem Zusammenbruch vieler anderer Industriebetriebe nach 1990 auch gegeben hat.

Während die ersten Händler ihre Geschäfte schließen, strömen immer mehr Beschäftigte von Bombardier und Siemens aus den Werken nach draußen. Kurz vor halb eins kann noch einmal der Stadtbus vor dem Bombardier-Werk halten, Minuten später käme er hier nicht mehr durch. Aus einem Lautsprecherwagen der IG Metall dröhnen die Rolling Stones und AC/DC.

Um 12.45 Uhr scharen sich viele Hundert Menschen hinter dem Turbinen-Traktor der Siemensianer, die meisten mit violetten Westen – und dahinter viele Jugendliche der Oberschule Rauschwalde. Auch der frühere Oberbürgermeister Rolf Karbaum reiht sich mit seiner Gattin ein. Seit der Wendezeit, sagt er, hat er an einer großen Demonstration nicht mehr teilgenommen. Aber diesmal musste es sein. Später, am Kaufhaus, sollte er seinen früheren Bürgermeister-Kollegen Stefan Holthaus treffen. Gemeinsam hatten sie in ihren Amtsjahren bis 2005 das Credo ausgegeben, dass aus der stolzen Stadt kein Dorf gemacht werden dürfe.

Zwischen den Massen vor dem Bombardier-Werk taucht Markus Schlimbach auf, der Sachsen-Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB). Jan Otto, der Ostsachsen-Chef der IG Metall, scheint überall gleichzeitig zu sein, nebenbei gibt er noch Interviews. Immer mehr Bombardier-Werker versammeln sich, einige haben ihre Familien mitgebracht. Nicht dabei sind die Leiharbeiter, die im Waggonbauwerk Dienst tun – ihnen wurde vom Konzern die Teilnahme untersagt. Unterdessen werden Trillerpfeifen und IG-Metall-Fahnen verteilt, viele Waggonbauer sagen mit Transparenten, was sie denken: „Görlitz stirbt ohne Waggonbau“, „Bombardier ist auch unsere Zukunft“, „Wir stehen zusammen und lassen uns nicht verarschen“. Ein paar Hundert Meter weiter, vor dem Siemens-Tor, ähnliche Worte: „Siemens – unsere Stadt, unsere Zukunft“ oder „Null Bock auf einen Umzug aus Görlitz“.

Kurz nach 13 Uhr setzen sich beide Demonstrationszüge in Bewegung. Die Polizei hält die Straßen frei. Die meisten Autofahrer nicken verständnisvoll, als sie anders als geplant abbiegen müssen.

Am Brautwiesenplatz treffen beide Züge aufeinander. Rhythmisches Trommeln vom Siemens-Anhänger füllt den Platz und wird nicht aufhören, bis der Zug den Obermarkt erreicht hat. Unterwegs schließen sich immer mehr Görlitzer dem Zug an, an dessen Spitze unter anderem Sachsens Wirtschaftsminister Martin Dulig (SPD) und der CDU-Landtagsabgeordnete Octavian Ursu laufen. Beschäftigte des Landratsamtes reihen sich ein; als der Zug die Berliner Straße erreicht, sind außer den Transparenten von Bombardier und Siemens mittlerweile auch Schilder anderer Betriebe wie KSC Anlagenbau sowie von Görlitzer Schulen zu sehen. Ebenso Spruchbänder und Fahnen der Gewerkschaften Verdi und Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE), auch die polnische Solidarnosc macht ihrem Namen Ehre. Männer in Jacken mit den Logos von Bayern München und Borussia Dortmund laufen einträchtig nebeneinander.

Als der Zug, mittlerweile auf mehrere Tausend Menschen angeschwollen, über die Fußgängerzone zieht, steht Doreen Schulz allein in ihrem „Engbers“-Modeladen. Ein bisschen traurig, weil ihre Konzernleitung ihr nicht erlaubt hat, zu schließen; aber sehr bewegt, als sie die großen Menschenmenge sieht, die sich an ihren Schaufenstern vorbeischiebt. „Ich finde, das ist eine Glanzleistung der Görlitzer“, sagt die Filialleiterin. „Da sind bei mir sogar ein paar Tränen geflossen.“ Die Mitarbeiterinnen der DM-Drogerie am Demianiplatz sind froh, dass ihr Konzern anders „tickt“. „Von „Verheimatung“ spricht Gebietsleiterin Heike Hentschke, die sich im Büro von Filialleiterin Sabine Bierlich noch kurz berät: Was tun, wenn noch Kunden da sind?

Als der große Zug um kurz nach 14 Uhr am Obermarkt ankommt, hat in der Innenstadt aber kaum noch jemand das Bedürfnis, einzukaufen. Wer unterwegs ist, schließt sich der Demonstration an. Es sind Mädchen, Jungen, Frauen, Männer aller Altersgruppen, Alteingesessene und Neugörlitzer. Also kann Sabine Bierlich ihre Filiale ruhigen Gewissens schließen. Was eigentlich als solidarische Geste an die Demonstranten gedacht war, wird auch zu einem Dankeschön an die Kunden für ihr Verständnis: Vor dem Eingang der Filiale steht ein Tisch mit Tee und Keksen.

Zur selben Zeit ist der größte Görlitzer Platz bereits gut gefüllt. Allein mehr als 1 000 Schüler von verschiedenen Görlitzer Schulen sind dabei; ihnen ist der Platz direkt vor der Bühne gewidmet, denn eines soll sehr deutlich werden an diesem Nachmittag: Es geht um die Zukunft der Stadt und der Region. Von der Dreifaltigkeitskirche bis zur Steinstraße ist der Platz bald voller Menschen. Wie viele mögen es sein? Mehr als die ursprünglich erwarteten 5 000 auf jeden Fall; viel mehr. Später wird Gewerkschafter Jan Otto von der Bühne herab die offizielle Schätzung verkünden: Mehr als 7 000 Menschen sind hier zusammengekommen. Und niemand hat die Versammlung „gekapert“, um sein eigenes politisches Süppchen zu kochen. Hatte es am Donnerstag in sozialen Netzwerken noch große Aufregung darüber gegeben, dass der Bundestagsabgeordnete der AfD, Tino Chrupalla, nicht reden dürfe (wie auch Vertreter anderer Parteien nicht), so blieb der angekündigte Protest mit Plakaten und Sprechchören aus. 30 blaue Luftballons erwiesen sich als ganz unpolitisch. Mitarbeiter des Senckenberg-Museums für Naturkunde hatten sie zur Demo mitgebracht. „Vielleicht hätten wir lieber eine andere Farbe nehmen sollen“, sagte eine Mitarbeiterin; denn dieses Blau ist just die Farbe der AfD.

Es dauert mehr als elf Minuten, bis alle Demonstranten den Obermarkt füllen. Fast überschlägt sich die Stimme von Metall-Gewerkschafter Jan Otto, als er unter Beifall ins Mikrofon ruft: „Wir geben diese Region auf keinen Fall, gegen niemanden auf!“ Er sei wütend auf Siemens und Bombardier, die mit kurzsichtigen Entscheidungen die Zukunft der größten Görlitzer Industriebetriebe aufs Spiel setzen. Otto bietet beiden Konzernspitzen an, gemeinsam Lösungen für die Zukunft der Werke zu beraten.

Anschließend übergibt der Gewerkschafter das Mikrofon an Nico Schöps, Schülersprecher am Beruflichen Schulzentrum „Christoph Lüders“. Während der gesamten Kundgebung wechseln sich Gewerkschafter, Betriebsräte und Görlitzer Schüler am Mikrofon ab. So warnt Johann vom Joliot-Curie-Gymnasium, Siemens und Bombardier würden mit ihren Görlitzer Werken „etwas unglaublich Wertvolles“ verlieren. Erik von der Melanchthonschule erzählt von seinem Vater, der seit mehr als 30 Jahren bei Siemens arbeitet: „Jetzt haben wir Angst, die Stadt verlassen zu müssen, aber wir wollen in Görlitz bleiben. Dafür stehen wir heute hier.“

Richard von der Scultetus-Oberschule sagt, er möchte gern „hier lernen, wie komplette Schienenfahrzeuge gebaut werden“. An die Vorstände beider Konzerne appelliert er: „Görlitz liegt im Herzen Europas, behandeln Sie es auch so!“ Claudia und Leon von der Innenstadtschule wollen sich nicht an Hoffnungslosigkeit gewöhnen. Und Viertklässler Gustav von der Böttcher-Grundschule erzählt von seinem besten Freund, dessen Vater bei Siemens arbeitet. „Mein Freund würde mir sehr fehlen, wenn die Familie aus Görlitz wegziehen muss.“

Wirtschaftsminister Dulig sagt mit Blick auf die vielen Kinder vor der Bühne, die jungen Görlitzer wollen hier eine Chance. Wenn Unternehmen aus wirtschaftlichen Gründen umstrukturieren müssen, sollten sie die ausgestreckten Hände der Gewerkschaften annehmen: „Das sind Gesprächspartner, die Lösungen haben!“

Ohne Industrie kann Görlitz nicht bestehen, sagt der Siemens-Betriebsratsvorsitzende Christian Hainke. Sein Bombardier-Pendant René Straube verkündet entschlossen: „Wir kämpfen um jeden Arbeitsplatz in beiden Unternehmen!“ Wolfgang Lemb vom Hauptvorstand der IG Metall nennt die Anwesenheit von mehr als 7 000 Menschen „ein starkes Signal an beide Konzerne“. Mit deren Vorständen möchte sich Siegfried Deinege gern monatlich treffen und über die Zukunft der Werke beraten, sagt der Görlitzer Oberbürgermeister zum Abschluss der Kundgebung unter besonders viel Beifall.

Der Live-Ticker der SZ über die Demonstration zum Nachlesen

www.sz-link.de/goerlitz-demo