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Ein Winter, wie er früher einmal war

Von wegen. Ein Blick durch die Großenhainer Chronik zeigt, das Wetter schlug schon früher Kapriolen.

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© Klaus-Dieter Brühl

Von Birgit Ulbricht

Großenhain. Und noch mal 15 Zentimeter Neuschnee. Vor sieben Jahren wurde es vielen Kraftfahrern in Großenhain erstmals richtig Angst. Mancher musste sein Fahrzeug mit der Schaufel ausgraben. Die Hilfe von Nachbarn war nötig, um überhaupt auf die Straße zu kommen. Die Parkplätze waren erst gar nicht geräumt. An der Großen Röder sah es aus wie auf dem Erzgebirgskamm. Mittlerweile lagen 40 Zentimeter Schnee, und die Verwehungen erreichten ohne weiteres 1,20 Meter.

Wolfgang Bothur wollte seine Männer eigentlich in den Jahresendurlaub schicken. Doch daraus wurde nichts. Im Kampf gegen die Schneemassen wird jeder Einzelne gebraucht. Schließlich wird der Schnee sogar mit Baggerschaufeln aufgeladen und aus der Stadt gefahren. Das ist eindrucksvoll. Vor allem für Kinder. Gefährlicher ist, was sich in Wäldern, Parks und in Rödernähe abspielt. Denn 2010 war zunächst der Tornado über Großenhain hinweg gefegt und hatte in manchen Ortsteilen fast alle Dächer abgehoben. Dann wurde es von unten nass: Hochwasser. Die hohe Schneedecke sah nun zwar romantisch aus – darunter schlummerte jedoch Chaos.

Wer durch die hundertjährige Chronik der Stadt oder die Zeitung blättert, stellt fest, das Großenhainer Land war schon immer eine zugige Ecke. Am 8. August 1927 notiert der Chronist: „Eisstücke bis zu 2,5 Zentimeter Durchmesser fielen in solcher Dichte, dass sie in dicker Schicht liegenblieben. Im Stadtpark und auf dem Bobersberg waren große Bäume ausgerissen oder umgeknickt.“ Am 6. Januar 1976 wird ebenfalls von heftigsten Sturmböen berichtet, Stromleitung werden heruntergerissen, Dächer abgedeckt, Bäume entwurzelt. Was freuten sich die Großenhainer aber, dass der Sturm „vergeblich am vom Kreisbau errichteten Gerüst an der Marienkirche rüttelte“. Den Stadtchronisten offenkundig auch.

Auch mit Kälte und Schneemassen haben die Großenhainer so ihre Erfahrungen. Die Silvesternacht 1978/ 1979 war wohl mit minus 21 Grad eine der kältesten überhaupt. Veranstaltungen wurden abgesagt. Auch im Kriegsjahr 1917 machte der Winter den Menschen das Leben nicht gerade leichter. Schneidende Kälte um 16 Grad minus hielt das Land im Griff. Die Kohle war im Januar ausgegangen. Transportmöglichkeiten gab es kaum noch. Kirchen und Schulen konnten nicht mehr beheizt werden, die Real- und Handelsschule wurden ab dem 9. Februar komplett geschlossen. Kältefrei gab es übrigens in Großenhain bis weit in die 1960er Jahre hinein regelmäßig, wenn die Kohleversorgung ins Stocken geriet. In eine missliche Lage kamen auch die Zugreisenden am 21. Dezember des Jahres 1886. Der Schnee trieb so dicht, dass der Zug nach Priestewitz am späten Abend auf freier Strecke liegenblieb. Frau Zätsch aus Priestewitz hatte in Großenhain gebacken und fuhr mit diesem Zug zurück, wie Schlossermeister Hermann Hofmann in seinen Erinnerungen uns heute noch überliefert. Am Ende verteilte sie das Backwerk in der Nacht an die hungrigen und frierenden Reisenden. Ab 21. Dezember gab es keine Post, keine Zeitungen mehr, und auch die Bäcker stellten ihre Arbeit großteils ein: Denn es gab keine Hefe mehr. Erst am Heiligabend wurde ein Gleis der Strecke Dresden – Leipzig frei, sodass 19 Uhr die ersten Reisenden endlich von Leipzig eintrafen.

Bis zu zwei Meter hohe Schneewehen, dann plötzliches Tauwetter und ein Hochwasserstand von 3,51 Meter – das mussten die Großenhainer Mitte Januar 1968 bewerkstelligen. Gerade noch mussten Freiwillige eine Zufahrtsschneise zu jedem Ort frei schippen, da galt es plötzlich, die Dämme zu verstärken und zwischen Zschieschen und dem Seebad Dammläufer zur Deichkontrolle loszuschicken. Innerhalb weniger Stunden war die Temperatur um fast 20 Grad gestiegen. Da blieb für Winterfreuden keine Zeit, zumindest nicht für die Erwachsenen. Die Kinder freuten sich freilich, wenn zum Beispiel die Röder zufror und manchmal sogar die überschwemmten Wiesen, sodass sie entlang des gesamten Stadtgebietes und bis Folbern hinaus Schlittschuhlaufen konnten. Ohne Computer und Fernsehen war die Welt ein einziger Spielplatz. Höchstgefährlich, aber beliebt war bei Jugendlichen das Eisschollen-Surfen, wie man es heute vielleicht nennen würde. Die Kinder sprangen von der Brücke auf vorbeitreibende größere Schollen und ließen sich treiben. Nur unter eine andere Eisscholle rutschen durfte man nicht. Doch nass wurde so mancher. Heim rannten allerdings da die wenigstens, denn dann hätte es ordentlich was gesetzt, verboten doch die Eltern das gefährliche Spiel ausdrücklich. Meldungen wie die vom 16. Januar 1985 und vom 6. Januar 1993: „Packeis auf der Röder“ riefen dann nur noch die Flussmeisterei und den Bauhof auf den Plan, damit der Durchfluss vor allem an den Brücken gewährleistet werden konnte. Die Nachkriegszeiten des Schollen-Reitens waren da längst Geschichte. Und noch eines fällt beim Blättern in der Chronik auf: Über die heroischen Berichte von der sozialistischen Schneefront mag man heute schmunzeln, den Zusammenhalt in der Stadt, unter Bürgern und unter den Betrieben haben die vielen „Freiwilligeneinsätze“ aber sicher hochgehalten.