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Ein schräger Liebling

Mit dem Bautzener Reichenturm verbindet Renate Peter seit 27 Jahren ein tägliches Auf und Ab. Auch in der kommenden Saison.

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© Uwe Soeder

Von Miriam Schönbach

Bautzen. Drei- bis viermal am Tag erklimmt Renate Peter zuweilen die 118 Stufen hoch in die Wächterstube des Reichenturms. Noch einmal 17 Schritte braucht es bis zur Aussichtsplattform. Der böhmische Wind weht an diesem Morgen besonders heftig. Die 66-Jährige genießt das eisige Panorama. Hier oben liegt ihr Bautzen zu Füßen. Auf der Reichenstraße tummeln sich die Menschen zwischen den Weihnachtsmarktbuden. In der Ferne ist das neue Mitoseum-Besucherzentrum des Saurierparks zu sehen. „Erst neulich war wieder die Landeskrone, der Görlitzer Hausberg, zum Greifen nah“, sagt sie.

Die Reichentürmerin steigt wieder in ihre Turmstube. Quietschend schließt sich die Luke. Nach der Sanierung von Bautzens Schiefen ist sie seit April dieses Jahres wieder die Turmherrin. Seit 1990 ist ihr Leben mit dem 56 Meter steinernen Riesen verbunden. Damals verabschiedete sich das Stadtmuseum vom Denkmal, das bis dahin die Öffnungszeiten absicherte. Doch das plötzliche Aus will Renate Peter nicht hinnehmen. „Ich dachte, wir können als Stadtführer dafür sorgen, dass das Wahrzeichen weiter zugänglich bleibt. Dann sind wir aber als Familie eingestiegen“, sagt sie.

Ein Jahr später wird der erste Pachtvertrag mit der Stadt Bautzen unterschrieben mit täglichen Öffnungszeiten zwischen dem 1. April und dem 31. Oktober. In den Jahren 1992/93 wird der Über-500-Jährige zum ersten Mal nach der Wende generalüberholt. Dabei, weiß Renate Peter, hatte ihr Liebling von Anfang an einen schweren Stand in der Stadt. „100 Jahre nach seiner Erbauung war er schon schief. Damals diskutierte der Rat der Stadt über Abriss“, sagt die Bautzenerin. Der untere Teil entstand 1490/92 beim Ausbau der inneren Stadtbefestigung. Gut 200 Jahre später bekommt der Schutzturm für die „Gasse der Reichen“ im 1715/18 einen steinernen Barockaufsatz. Das zwingt den Stadtturm in die Knie. Erst Baumeister Hans-Ernst Hentschke stabilisiert ihn 1953/54 in seiner heutigen Schräglage.

Das Lot in der kleinen Wächterstube zeigt die Neigung des Turms an. Nach den jüngsten Vermessungen im Mai weiß man: Der Reichenturm krümmt sich wie eh und je 1,41 Meter Richtung Nordwesten. Renate Peter setzt sich auf einen Stuhl. Ansonsten fehlt die Einrichtung. Denn in den kommenden Wochen sollen nach der Außensanierung auch innen noch ein paar Handgriffe gemacht werden.

Auch Stamm-Besucher

Der kleine Raum diente früher dem Türmer, um sich kurz aufzuwärmen. Laut Wachordnung aus dem Jahr 1689 hatte er aber eigentlich bei jedem Wind und Wetter draußen zu stehen, um Feinde wie Brände zu entdecken. Nur achtsamer Ersatz verschaffte ihm mal eine Pause.

Diese Geschichten und noch viel mehr wird Renate Peter auch in der kommenden Saison wieder ihren Gästen auf dem Reichenturm erzählen. „Am liebsten sind mir diejenigen Besucher, die fröhlich und interessiert nach oben kommen“, sagt sie. Gern begrüßt sie auch ihr Stammpublikum. In diesem Jahr stand ein gestandener junger Mann vor ihr, den sie erst auf den zweiten Blick erkannte. Als Schüler war er früher vor seiner Busabfahrt fast täglich auf Bautzens Schiefen. Nun will er, erzählt die Türmerin, nach Jahren außerhalb der Oberlausitz wieder in die Heimat zurückkehren. Vielleicht hält er ja an seinem Ritual von einst fest.

Rund 8 000 Reichenturm-Erklimmer genossen in diesem Jahr den Rundumblick ins Land. Renate Peter schaut auf die Flaneure der Reichenstraße. Dann muss sie los. Ihr zweites Standbein sind Stadtführungen und Reisebegleitungen. Derzeit ist sie wohl die dienstälteste Amtsinhaberin unter den Bautzen-Erklärern. Vor 48 Jahren hat sie den Stadtführer-Lehrgang absolviert. Damals war sie eine der Jüngsten, sagt sie und zieht sich die Jacke zu. Eilig geht es die 118 Stufen hinunter. Die nächste Gruppe wartet auf die Geschichten der Reichentürmerin.