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Ein Mann und sein Turm

Die Gottgetreuer sind ein besonderes Völkchen. Sie haben keine Kirche, aber einen Glockenturm.

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© E. Kamprath

Von Maik Brückner

Geising. Es gibt viele kleine Dörfer im Osterzgebirge. Doch frei stehende Glockentürme haben nur wenige. Gottgetreu ist so ein Ort. Der Turm prägt hier schon seit 90 Jahren das Dorf, weiß Helmut Rötzschke. Der Gottgetreuer kümmert sich seit 1993 um dieses Bauwerk. Und da ist immer etwas zu tun. Denn das raue Erzgebirgswetter setzt dem mit Holz verkleideten Turm sehr zu. „Umfangreiche Baumaßnahmen waren notwendig“, erzählt der 68-jährige Senior, der von Beruf Schlosser ist. Er hat am Turm nicht nur gewerkelt, sondern auch dessen Geschichte erforscht. Und die ist eng mit der des Dorfes verknüpft.

Gottgetreu wurde 1727 von evangelischen Christen gegründet, die von dem katholischen Herrscherhaus Habsburg aus Böhmen vertrieben wurden. Der in Lauenstein residierende Graf von Bünau bot ihnen an, sich auf seinem Grund und Boden niederzulassen. Unweit der böhmisch-sächsischen Grenze entstand ein Dorf. „Meine Nachforschungen ergaben, dass der Ort bis 1864 Gotttreu hieß“, erzählt Helmut Rötzschke. Hartnäckigkeit der Christen, am neuen Glauben festzuhalten, spiegelte sich in der Namensfindung wieder. 1865 erfolgte die Umbenennung in Gottgetreu. Warum, das habe sich nicht ergründen lassen. Offenbar war es dem Zeitgeist geschuldet. „Ich vermute, es sollte besser klingen.“ Belegt ist aber, dass der Gottgetreuer Otto Schaffer, der im Kirchenvorstand zu Fürstenau mitarbeitete, 1926 die Idee eines Turmbaus ins Gespräch brachte. Anlass war das 200-jährige Bestehen des Dorfes. „Die Einwohner nahmen mit Freude diesen Vorschlag an und waren bereit, den Turmbau zu unterstützen“, erzählt Rötzschke. Schaffer fertigte auf Pergament eine filigrane Zeichnung an, die Familie Otto Lehmann stellte das Land bereit, auf dem der Turm erbaut werden sollte, die Familie Emil Schubert ermöglichte die unentgeltliche Nutzung eines Weges. Diese Regelungen wurden im damaligen Amtsgericht Lauenstein am 20. September 1927 festgeschrieben. Aus Lauenstein erhielten die Gottgetreuer auch viel Unterstützung für ihr Vorhaben. Die kam von den Nachfolgern deren von Bünau, von der „von Hohentalischen Rittergutsverwaltung“.

Recht unproblematisch kamen die Gottgetreuer zu ihrer Glocke. Sie mussten sich keine gießen lassen, sondern erhielten sie als Geschenk von den Löwenhainern. Diese hatten ihre alte, 1763 gegossene Schulglocke abgehangen und in der Fürstenauer Kirche eingelagert. „Diese Glocke wurde 1927 den Gottgetreuern übereignet“, erzählt Helmut Rötzschke.

Im Sommer 1927 war es dann soweit. Die Gottgetreuer planten die Einweihung am 10. Juli. Die fiel letztlich sehr bescheiden aus. Ein Hochwasser an den beiden Vortagen machte ihnen einen Strich durch die Rechnung. Der Fürstenwalder Pfarrer, der zur Einweihung geladen war, musste über zwei starke Bäume oberhalb der Büttnermühle über die Müglitz klettern.

Nach der Fertigstellung übernahm Linda Rehn, die neben dem Turm wohnte, den Glöcknerdienst. Von 1949 bis 1960 erledigte die Familie Engelmann den Dienst. Danach wurde dieser bis 1986 von Georg und Johanna Rehn, mit zwischenzeitlichen Unterbrechungen, weitergeführt. Irmgard Lehmann übernahm den Dienst von 1987 bis 1999, sie war die letzte Glöcknerin.

Bis Mitte der 1980er-Jahre zahlten die Gottgetreuer einen kleinen Obolus für diesen Dienst. Belegt ist, dass Linda Rehn jährlich zwei Mark von jedem Haushalt erhielt. Ab Mitte der 1980er-Jahre bezahlte die Kirchgemeinde den Glöckner. Liebenaus Pfarrer Matthias Küttner regte an, eine Läuteanlage einzubauen. Diesem Vorschlag folgten die Gottgetreuer 1999. Der Turm bekam eine Glockensteuerung. Seither wird nun früh um 7 Uhr sowie mittags um 12 und abends 18 Uhr geläutet. „Nun funktioniert die Steuerung nicht mehr richtig“, sagt der Heimatforscher. Deshalb soll sie erneuert werden. Die Kirchgemeinde habe sich bereiterklärt, die Kosten dafür zu übernehmen. „Wir wollen das im Frühjahr erledigen“, sagt Rötzschke. Bis dahin wird der Glocken-Klöppel weiterhin nur an die eine Seite schlagen. „Nur, wenn wir Südwind haben, schlägt er an beide Seiten“, sagt der Gottgetreuer mit einem Lächeln.

Unvergessen sind die Freiluftgottesdienste und viele schöne Feste, die am Turm gefeiert wurden. Oftmals übernahm der Posaunenchor aus Fürstenwalde und Liebenau die musikalische Umrahmung. Auch die Geisinger Erzgebirgsgruppe Vugelbeern trat hier auf. Ein Höhepunkt war 2002, als anlässlich der Ortsgründung vor 275 Jahren der damalige Landesbischof Volker Kress nach Gottgetreu kam und predigte. „Die Treffen am Turm führten Menschen zueinander, die sich manchmal Jahrzehnte nicht mehr begegnet waren. Hier am Glockenturm sahen sie sich wieder, um Gottes Wort zu hören“, sagt Rötzschke.