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Der gefallene Held

Einst galt er als der Retter der Lommatzscher und Radebeuler Maschinenbauer Lomma und Rotec. Jetzt sitzt der früher verehrte Mann im Gefängnis. Was ist mit dem Saubermann passiert?

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© SZ/Jürgen Müller

Von Jürgen Müller

Gefesselt mit Handschellen und bewacht von einem Justizangestellten betritt ein Mann im grauen Anzug den Saal des Landgerichts Stuttgart. Mit Akten verdeckt er sein Gesicht. Der 60-Jährige, der sich so scheu gibt, drängte einst in die Öffentlichkeit, ist in Sachsen und vor allem in der Meißner und Radebeuler Region ein bekannter Mann. Martin Spieß heißt er und galt als der Retter von zwei traditionsreichen Unternehmen in Sachsen, der Lomma GmbH in Lommatzsch und der Rotec in Radebeul. Vor allem in Lommatzsch wurde er als Held verehrt, nachdem er aus der Insolvenz heraus den Landmaschinenhersteller Lomma kaufte, rund 90 Arbeitsplätze rettete oder wieder schuf, das Überleben des größten Arbeitgebers in der kleinen Stadt nahe Meißen sicherte. Doch nun muss er ins Gefängnis. Der Mann, der sich immer als Saubermann präsentierte, sitzt wegen schweren Raubes und Besitzes einer verbotenen Waffe vor dem Landgericht Stuttgart. Im Falle einer Verurteilung droht ihm neben der Strafe weiteres Ungemach. Auch seine Straftaten, die er im Zusammenhang mit den Insolvenzen der Lomma und der Rotec beging, könnten ihm jetzt auf die Füße fallen. Das Schöffengericht des Amtsgerichtes Dresden hatte ihn 2016 wegen vorsätzlicher Insolvenzverschleppung, Bankrotts in 195 Fällen sowie Insolvenzverschleppung und Bankrotts in 26 Fällen zu zwei Haftstrafen von je zwei Jahren und zu einer hohen Geldstrafe verurteilt. Die Haftstrafen wurden für drei Jahre zur Bewährung ausgesetzt. Er musste also nicht ins Gefängnis, durfte aber in dieser Zeit nicht erneut straffällig werden, ansonsten droht der Widerruf der Bewährung.

Spieß beging neue Straftaten. Ihm wird jetzt vorgeworfen, am Abend des 27. April 2017 in Leinfelden-Echterdingen in Baden-Württemberg eine 37 Jahre alte Prostituierte beraubt zu haben. Er soll die Ungarin in seinem Auto mitgenommen und mit ihr Geschlechtsverkehr vereinbart haben. Gemeinsam fuhr man zu einem Waldweg. Dort soll der 60-Jährige die Frau mit einer Schusswaffe bedroht und ihre Handtasche mit 150 Euro Bargeld und dem Handy geraubt haben. Das Opfer soll er auf dem Waldweg zurückgelassen haben. Die Frau erkannte den Tatverdächtigen auf mehreren ihr von der Polizei vorgelegten Fotos wieder. Nach ihm wurde gefahndet. Schließlich wurde Spieß auf dem Parkplatz Sophienberg an der Autobahn 9 in Oberfranken verhaftet. Spezialkräfte der Polizei Nordbayern nahmen ihn widerstandslos fest. In seinem Fahrzeug wurden eine geladene Schreckschusswaffe, ein Elektroschocker und ein Reizstoffsprühgerät gefunden. Seit der Festnahme am 22. Mai 2017 war er in Untersuchungshaft.

Die Haft hat ihn sichtlich mitgenommen. Blass sitzt er auf der Anklagebank. Nach eigenen Angaben hat er in den sechs Monaten im Gefängnis neun Kilogramm an Gewicht verloren. Nicht verloren aber hat er sein Selbstbewusstsein und seinen Hang zur Selbstdarstellung. Fast eine Stunde lang schildert er dem Gericht seinen beruflichen Werdegang, hebt seine Arbeit hervor. Bei einem großen Autohersteller habe er schließlich gekündigt. Danach habe er „die Möglichkeit gehabt, ein insolventes Unternehmen in Lommatzsch zu erwerben“, sagt er. Ein Freund habe ihm das empfohlen. Der Vorsitzende Richter Volker Peterke unterbricht ihn kurz: „Das klingt ein bisschen wie Hans im Glück“. Spieß widerspricht. Der Kauf der insolventen Lomma sei für ihn eine große berufliche Herausforderung gewesen.

Die Lomma ist der frühere VEB Dämpferbau „Rotes Banner“ Döbeln. Dieser Betrieb gehörte zu DDR-Zeiten zum Kombinat Fortschritt in Neustadt. Gebaut wurden Fahrzeuganhänger für die Landwirtschaft und technische Ausrüstung für Kläranlagen. 1990 hatte der Betrieb 460 Mitarbeiter. 2006 waren es 60, drei Jahre später noch 45. Unter Spieß hatte der Betrieb zeitweise 90 Angestellte. Tatsächlich bewegt Spieß zunächst vieles, lässt alte Gebäude abreißen, neue Hallen errichten, stellt Leute ein, erweitert die Produktion. Andererseits ist sein Führungsstil gefürchtet. Spieß duldet keinen Widerspruch. Der umtriebige geschäftsführende Gesellschafter ist ständig auf Reisen, versucht auch Aufträge in Polen und Tartastan hereinzuholen. Der Umsatz des Unternehmens steigt rasant an. Betrug dieser 2005 noch 5,8 Millionen Euro, waren es ein Jahr später 6,9 Millionen Euro, 2007 schon fast 13 Millionen Euro. Experten wie die Wirtschaftsförderung Meißen sind schon damals skeptisch. Das Unternehmenskonzept basiere auf ständigem, rasantem Wachstum. Bliebe dies aus, werde das Konstrukt wie ein Kartenhaus zusammenfallen, warnen sie.

Im Jahr 2009 gelingt Spieß ein medialer Coup. Offiziell veranstaltet er in Lommatzsch den „Tag des Ausbildungsplatzes“, hat einen prominenten Gast eingeladen: Alt-Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) wird in Lommatzsch eingeflogen. Der lobt Spieß in den höchsten Tönen, preist ihn und seine Firma für ein gelungenes Beispiel für den Aufbau Ost. Was Schröder nicht weiß: Spieß ist schon damals mehrfach vorbestraft, unter anderem wegen räuberischer Erpressung. Und der Firma geht es damals schon schlecht. Der prominente Besuch soll wohl ein Signal an Banken und Kunden sein. Spieß glaubt, das Ruder noch herumreißen zu können, überschätzt sich auch diesmal. Insolvenzgerüchten tritt er entschieden entgegen.

Im März 2010, sieben Monate nach dem Schröder-Besuch und viel zu spät meldet er Insolvenz für die Lomma an. Die Firma hat einen Schuldenberg von zehn Millionen Euro. Wie Spieß jetzt vor Gericht in Stuttgart sagt, hat er 3,5 Millionen Euro persönliche Schulden vor allem aus der Lomma-Pleite. Schuld an der Insolvenz ist aber nicht er, sondern es sind die Banken, die Finanzkrise und die Kunden, sagte er damals der SZ. Spieß hatte inzwischen auch die Firma Rotec in Radebeul gekauft und kurz vor der Lomma-Insolvenz an seine Frau für einen Euro weiterverkauft und zog sie damit in seine Schwierigkeiten hinein. Offiziell war seine Frau Geschäftsführerin, hatte aber mit der Rotec nichts zu tun. Auch sie war in Dresden angeklagt. Das Verfahren gegen sie wurde eingestellt, weil sich schnell herausstellte, dass Martin Spieß de facto der Geschäftsführer war, seine Frau nur eine Art „Strohfrau“. Die Ehe ist inzwischen geschieden.

Auch bei der Verhandlung in Stuttgart sucht Spieß wieder nach Schuldigen. Zwar gibt er zu, die Schreckschusspistole gekauft zu haben, dass er dafür aber einen kleinen Waffenschein braucht, will er jedoch nicht gewusst haben. „Der Verkäufer hätte mir das sagen müssen. Er hätte mir die Waffe gar nicht verkaufen dürfen“, sagt er, räumt aber auch ein: „Bei meinem Vorleben hätte ich gar keinen Waffenschein erhalten.“

Spieß streitet ab, die Prostituierte mit der Waffe bedroht zu haben. „Ich habe die Pistole gar nicht angefasst, sie lag nur im Kofferraum“. Als die Frau die Waffe sah, sei sie in Panik geraten und habe versucht, die Polizei anzurufen. Deshalb habe er ihr das Handy entrissen und die Handtasche auch. Die Frau schildert das ganz anders. Er habe gewartet, bis sie wieder angezogen sei, sei dann in den Kofferraum gegangen und habe ihr die Pistole in Kopfhöhe entgegengehalten mit den Worten: „Raus jetzt, ohne Tasche“. In Todesangst sei sie ausgestiegen. Danach sei der Mann mit offener Beifahrertür und nur spärlich bekleidet davongerast. Die Tasche samt Inhalt will er auf dem nächsten Parkplatz in einen Papierkorb geworfen haben. Das Gericht verurteilt den 60-Jährigen zwar wegen schweren Raubes und mitgeführter Waffe sowie wegen verbotenen Waffenbesitzes zu einer Haftstrafe von drei Jahren und neun Monaten, nicht jedoch wegen Verwendung einer Waffe. Der Staatsanwalt sah das anders und hatte sechs Jahre und sechs Monate Haft gefordert. Gegen das Urteil ist Revision möglich. Wird es rechtskräftig, droht der Widerruf der Bewährungen. Diese Strafen müsste er zusätzlich noch absitzen.

Nach der Insolvenz kaufte die LST Group aus dem bayerischen Herrsching die Firma und nannte sie LST Maschinenbau Sachsen GmbH. Auch sie meldete bald Insolvenz an. 2014 übernahm der belgische Geschäftsmann Marc van Geoy als alleiniger Gesellschafter und Geschäftsführer die neu gegründete Lomma Sachsen GmbH. Sie zählt heute etwa 60 Mitarbeiter.