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Der Dauerbrenner im Becken

Werner Schnabel ist 82 und mehrfacher Schwimm-Weltmeister. Die Trainingskollegen könnten seine Enkel sein.

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© Ronald Bonß

Von Michaela Widder

Auf der handgeschriebenen Karteikarte stehen 2,6 Kilometer. Das Hauptprogramm sind sechsmal 200 Meter Freistil. Ein paar Mittdreißiger stöhnen schon, als der Trainer am Montagabend den Plan an den Startblock in der Schwimmhalle am Freiberger Platz heftet. Werner Schnabel, der sich mittendrin einsortiert, freut sich dagegen. Die Distanz mag der 82-Jährige am liebsten. Als er dann mit seinen raumgreifenden Armen ruhig durchs Wasser zieht, lässt er einige Mitschwimmer auf der Bahn hinter sich. „Kondition habe ich noch. In der letzten halben Stunde schwimme ich mich immer weiter nach vorn“, sagt er und lacht dabei.

Das Alter sieht man ihm nicht an. Dass die meisten in der Trainingsgruppe seine Enkel sein könnten, stört ihn nicht – im Gegenteil. „Es sind viele Studenten, das ist eine angenehme Atmosphäre, sie haben Anstand und Höflichkeit“, meint er, „und als Hochschullehrer war ich schon immer gern mit jungen Leuten zusammen.“

Werner Schnabel ist nicht nur der älteste Wettkampfschwimmer beim USV TU Dresden, sondern auch der erfolgreichste. Man muss den Senior aber schon direkt ansprechen, damit er von seinen vielen Titeln erzählt. Er mag es nicht sonderlich, im Mittelpunkt zu stehen.

17 deutsche Rekorde

Im vorigen Jahr wurde er in Budapest viermal Weltmeister in seiner Altersklasse, er gewann alle Titel von 100 bis 800 Meter Freistil. Wie viele Rekorde er hält, weiß er nicht aus dem Kopf und reicht die Daten später nach: Insgesamt sieben Europa- und 17 deutsche Bestmarken hält der drahtige Pensionär. „Rekordzeiten muss man immer in den ersten beiden Jahren der neuen Altersklasse anpeilen“, erklärt er seine Taktik. Denn die Leistungskurve gehe ja immer ein bisschen bergab. Je länger die Distanz, umso spärlicher ist auch die Konkurrenz. Mit seinen 82 Jahren ist er längst nicht der Älteste bei Weltmeisterschaften, und er staunt über einen 90-jährigen Polen, der noch mit guter Technik krault.

Eine Obergrenze für Wettkämpfe hat er sich nicht gesetzt. „Ich habe mal gesagt: Wenn ich 70 bin, höre ich auf, dasselbe mit 75. Und jetzt bin ich schon bei 80 gelandet und ein Ende ist zurzeit nicht absehbar.“ Schnabel will es zwar nicht am Alter festmachen, aber er möchte nicht so enden wie manche Konkurrenten, die eigentlich keine mehr sind. Im Moment hat er eine Fitness, von der wohl so mancher Jugendlicher träumt. Vier- bis fünfmal in der Woche geht er zum Training, dazu noch einmal ins Fitnessstudio, manchmal joggt der dreifache Opa durch den Großen Garten.

Ein Leben ohne Sport ist für den gebürtigen Chemnitzer undenkbar. „Wie jedes Kind wollte ich eigentlich Fußball spielen“, erzählt er. Doch der Vater war Ruderer, die Mutter Schwimmerin. Schon während der Kriegsjahre nahm sie an Wettkämpfen teil. Als sie später zudem als Schwimmmeisterin arbeitete, führte der Weg automatisch ins chlorige Nass. Mit Leistungssport begann er aber als Ruderer, als er 1955 zum Studium des Verkehrswesens nach Dresden zog. Innerhalb eines Jahres hatte er sich mit seiner Mannschaft an die DDR-Spitze gesetzt und sowohl 1957 als auch 1958 jeweils den Titel im Leichtgewichtsvierer mit und ohne Steuermann gewonnen. Sein größter Erfolg gelang ihm mit der Teilnahme am Ausscheid in Duisburg für die gesamtdeutsche Olympia-Mannschaft 1960. „Wir kamen im Zweier auf Platz zwei. Das war ein Riesenerfolg“, sagt Schnabel, der ein Jahr später mit dem Wettkampfrudern aufhörte.

Der Sport wurde professioneller, das Rudern war zu zeitaufwendig, und er wollte als promovierter Hochschullehrer auf seine Wissenschaftskarriere konzentrieren. Nach der Wende gestaltete er die Neuausrichtung an der Hochschule mit und gründete als Professor die Fakultät für Verkehrswissenschaften an der TU mit, bis 2000 war er Prodekan. Als Verkehrsexperte erstellt Schnabel noch heute verschiedene Gutachten. Für die Landeshauptstadt erarbeitete er 2014 eine Studie über die Nutzung der Waldschlößchenbrücke. Über das Thema kann er Geschichten erzählen ...

Noch mehr Zeit als in Verkehrsanalysen steckt er in sein großes Hobby. Seit Mitte der 1990er-Jahre bestreitet er wieder Wettkämpfe bei den Masters, wie die Senioren bei den Schwimmern genannt werden. Der Höhepunkt in diesem Jahr ist im Sommer die EM in Slowenien. Doch eine Entscheidung über seine Teilnahme ist noch nicht gefallen. Das muss noch im Familienrat mit seiner Frau Angelika, 71, besprochen werden, die ihn auf den Reisen durch die Welt begleitet. Sie führt auch die Statistik über seine Erfolge. Seine Medaillen bewahrt er in einer Kiste auf und verrät: „Die Aufregung vor einem Wettkampf ist auch noch im Alter da. Das gehört wohl dazu.“