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Das Heer der Tagelöhner wächst

Sie kommen oft nur mit ein paar Habseligkeiten und suchen Arbeit, notfalls auch stundenweise, ohne Vertrag, unterhalb der Mindestlohngrenze. In vielen deutschen Städten gehören Tagelöhner schon zum Stadtbild.

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© dpa

Christine Schultze und Britta Schultejans

München/Berlin. Victor sieht aus, als hätte er schlecht und nicht lange genug geschlafen. Mit einer Gruppe von Kollegen kommt er aus einem Hauseingang in der Münchner Innenstadt und macht sich auf den Weg zu jener berühmt-berüchtigten Ecke in der Nähe des Hauptbahnhofes, die inzwischen den Namen „Arbeiterstrich“ bekommen hat.

Eigentlich, so sagt der nach eigenen Angaben 36-jährige Ungar in nahezu fehlerfreiem Deutsch, arbeite er in seiner Heimat als Anwalt, im Moment aber „schickt uns eine Firma aus Deggendorf auf Montage“. Als Tagelöhner irgendwo auf deutschen Baustellen verdiene er mehr als in Ungarn als Anwalt. Aber bald wolle er nach Hause und in sein Büro zurückkehren. Die Arbeit in Deutschland sei einfach „zu hart“. Dann muss er los. Der Wagen kommt gleich, um ihn und seine Männer abzuholen.

„Wenn man kein Geld hat, bleibt nur eins: Auswandern, Job suchen. Im Sommer haben wir 400 bis 500 Leute hier, die als Tagelöhner oder Wanderarbeiter arbeiten“, sagt Savas Tetik von der Arbeiterwohlfahrt, der wenige hundert Meter vom Münchner „Arbeiterstrich“ entfernt in einem eigens eingerichteten Beratercafé arbeitet. „Mittlerweile sind aber auch viele im Winter hier geblieben.“ Wenn sie Glück haben, so sagt er, schlafen die Leute zu fünft oder sechst in einem Zimmer - wenn sie Pech haben, auf der Straße. Im Beratercafé können sie sich mit Kaffee und Tee aufwärmen.

In der Bauwirtschaft und bei den Gewerkschaften kennt man das Phänomen seit vielen Jahren. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) macht sich im Projekt „Faire Mobilität“ für gerechte Löhne und faire Arbeitsbedingungen für Arbeitnehmer aus den mittel- und osteuropäischen EU-Ländern stark und unterhält Beratungsstellen in mehreren deutschen Städten.

Aber auch den seriösen Arbeitgebern ist das Thema ein Dorn im Auge, wie Holger Seit von der Landesvereinigung Bauwirtschaft deutlich macht: „Der Wettbewerb wird dadurch extrem verzerrt.“ Zum einen würden bei Ausschreibungen immer wieder Bauleistungen zu Dumpingpreisen angeboten, die sich bei korrekter Kalkulation und Bezahlung der Arbeitskräfte nicht darstellen lassen. Hinzu könnten Haftungsprobleme kommen, wenn Sub- und Subsubunternehmen Mindestlöhne unterlaufen.

Auf über 50 Euro belaufe sich der Verrechnungspreis für eine Arbeitsstunde am Bau inklusive Tariflohn, Sozialversicherungsbeitrag, Berufsgenossenschaft und Lohnsteuer, sagt Seit. Der aktuelle Mindestlohn in der Branche liegt bei 11,30 Euro - doch Tagelöhner lassen sich immer wieder auch für unter 10 Euro anheuern, wie Berater Savas Tetik von der Arbeiterwohlfahrt weiß.

Und selbst um dieses Geld werden sie von windigen Geschäftemachern noch betrogen: Der in vielen Fällen nur mündlich vereinbarte Lohn werde dann nicht oder nur teilweise gezahlt. „Ich kenne keinen, der das nicht erlebt hat“, sagt der Berater. „Oft wissen sie nicht einmal einen Namen, haben nur eine Telefonnummer.“ Und dann müssten die Arbeiter auch noch mit Anfeindungen aus der Bevölkerung leben. „Sie sind ein Störfaktor für das Stadtbild.“

Beim Zoll ist das Problem „Arbeiterstrich“ auch aus Städten wie Duisburg oder Köln bekannt, doch dagegen einzuschreiten ist schwierig, sagt ein Sprecher der Behörde. Um die Leute oder ihre Auftraggeber zu belangen, müssten sie gezielt verfolgt und gestellt werden - das sei auch personell kaum zu stemmen.

Auch angesichts steigender Anforderungen rund um Mindestlohn-Kontrollen und Bewältigung der Flüchtlingskrise konzentriert sich der Zoll mittlerweile vor allem auf organisierte Formen der Schwarzarbeit. Darunter fallen etwa Großbaustellen, auf denen gleich Dutzende Arbeiter schwarz beschäftigt werden. Auch bei Gebäudereinigern, im Gerüstbau oder in der Gastronomie kämen immer wieder auch Tagelöhner zum Einsatz, sagt der Sprecher.

Gewachsen sind die Probleme aus Sicht der Bauwirtschaft mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit, die es Menschen aus osteuropäischen EU-Ländern seit einigen Jahren erlaubt, ohne Einschränkungen in Deutschland zu arbeiten, etwa aus Polen, Ungarn, Bulgarien oder Rumänien. Das brachte auch den Meisterbrief weiter unter Druck, der auf der Internationalen Handwerksmesse (8. bis 14. März) in den kommenden Tagen wieder auf der Tagesordnung stehen dürfte.

Augenfällig wurde das etwa bei Fliesenlegern, für die der Meisterzwang 2004 abgeschafft wurde. Seither wuchs das Heer der - teils auch scheinselbstständigen - Fliesenleger, von bundesweit 5 000 im Jahr 2003 auf mittlerweile über 70 000, sagt Seit. Für ihn hat die Arbeitnehmerfreizügigkeit der Bauwirtschaft „ausschließlich negative Auswirkungen“ gebracht. Was das Handwerk brauche, seien gut ausgebildete Fachkräfte, die überall händeringend gesucht würden.

„Was mich jeden Tag überrascht, ist die Motivation der Tagelöhner, die trotz allem einfach nur arbeiten wollen“, sagt Savas Tetik in München und fügt nach einer Pause hinzu: „Europa ist ja nicht nur für gut Ausgebildete gedacht. Europa ist für alle gedacht.“ (dpa)