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Am wichtigsten ist Geld verdienen

Tobias Melzer lebt in Mexiko und forscht zu deutschen Exilanten. Es ist auch ein ständiger Überlebenskampf.

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© André Braun

Von Jens Hoyer

Döbeln. Zu Weihnachten zieht es Tobias Melzer nach Hause, nach Döbeln. „Dann brauche ich die Kälte, die Schwibbbögen in den Fenstern und die Besuche bei meiner Familie.“ Zweimal habe er Weihnachten in Mexiko gefeiert. „Oh Tannenbaum am Pazifik, das passt nicht“, sagt der 40-Jährige, der seit 2012 in Mexiko-Stadt lebt. In einer Stadt mit 20 Millionen Einwohnern voller Gegensätze. In der kommenden Woche geht er dorthin zurück.

Die Pyramiden sind die Wahrzeichen Mexikos. Sie zeugen von der reichen indianischen Kultur, die von den Spaniern zerstört wurden. Am kolonialen Erbe habe Mexiko bis heute „zu knabbern“, wie Tobias Melzer sagte, der seit 2012 in Mexiko lebt und derzeit zu
Die Pyramiden sind die Wahrzeichen Mexikos. Sie zeugen von der reichen indianischen Kultur, die von den Spaniern zerstört wurden. Am kolonialen Erbe habe Mexiko bis heute „zu knabbern“, wie Tobias Melzer sagte, der seit 2012 in Mexiko lebt und derzeit zu
Die Kathedrale von Mexiko-Stadt ist die größte und älteste des Kontinents und ein Touristenmagnet.
Die Kathedrale von Mexiko-Stadt ist die größte und älteste des Kontinents und ein Touristenmagnet. © privat
Zum Reisen kommt Tobias Melzer eher selten. Das Land sei aber wunderschön und biete von der Wüste bis zum Dschungel eine Menge Sehenswertes.
Zum Reisen kommt Tobias Melzer eher selten. Das Land sei aber wunderschön und biete von der Wüste bis zum Dschungel eine Menge Sehenswertes. © privat

Im April 2012 hatte sich Melzer in den Flieger gesetzt, der in eine ungewisse Zukunft abhob. Die Wohnung war aufgelöst, die finanziellen Mittel begrenzt. „Ich hatte kein Rückflugticket“, sagte er. Ganz unbedarft reiste er allerdings nicht in das fremde Land. Er war schon dort, konnte Spanisch und hatte Kontakte. Und er wusste, wo er schlafen würde. Trotzdem. „Mit dem Wissen, das ich heute habe, würde ich es nicht noch mal machen“, meint er.

Seine Liebe zu Mexiko hatte Melzer schon 2003 entdeckt. Damals studierte er Soziale Arbeit in Roßwein und wollte sein Praktikum in Mexiko absolvieren. „Ich wollte unbedingt in ein spanisch sprechendes Land“, sagte er. Nicht, dass Melzer schon Spanisch konnte. Als er sich sein Geld für die Reise im Armaturenwerk in Roßwein erarbeitete, hatte in den Pausen die Sprache gebüffelt. Das reichte zumindest für eine Begrüßung. „Als wir dann in Mexiko waren, haben wir intensiv Spanisch gelernt. Nach eineinhalb Monaten waren wir soweit.“ Der Student wohnte damals bei Mexikanern und war mit einem Straßensozialarbeiter auf Achse. „Wir haben nur beobachtet. Als Weißer mit Straßenkindern Kontakt zu suchen, ist gefährlich. Eine Straße war tabu, weil dort Drogen vertickt wurden“, erzählte Melzer. Erst zum Abschluss des halbjährigen Praktikums habe er mit jungen Leuten Interviews für sein Studium führen können.

„Ich wollte dann unbedingt noch mal für meiner Diplomarbeit dorthin. Und ein Professor sagte mir, dass ich nach Otto Rühle suchen soll“, so Melzer. Rühle, in Großvoigtsberg bei Freiberg geboren, war ein sozialdemokratischer und später kommunistischer Politiker in der Weimarer Republik. „Er hat sich mit als erster um Jugendliche auf der Straße gekümmert“, erzählte Melzer. Rühle musste Deutschland verlassen und arbeitete ab 1935 für das mexikanische Erziehungsministerium. Er und seine Frau Alice Rühle-Gesterl gehörten zu den 5000 bis 6000 Deutschen, die auf der Flucht vor den Nazis nach Mexiko kamen. Ihnen widmet der Döbelner, der acht Jahre lang beim Verein Treibhaus als Sozialarbeiter tätig war, jetzt einen Teil seiner Zeit. „Die Deutschen haben überall ihre Fingerabdrücke hinterlassen. So ist zum Beispiel das Sozialsystem ganz ähnlich aufgebaut wie das in Deutschland. Die Arbeitgeber müssen auch einen Anteil einzahlen.“

Das Leben in Mexiko war damals hart und ist es heute noch. Melzer schildert es als ständigen Kampf: „Mach dir einen Kopp, wie du überleben kannst.“ Ein Lehrer verdient im Mexiko so wenig, dass er ohne Nebeneinkommen nicht existieren kann. Der Mindestlohn liegt bei etwa 80 Pesos, das sind etwa drei Euro am Tag. Die Unterschiede zwischen Armen und Reichen sind extrem krass. „Wenn du in Mexiko ganz unten bis, dann bist du wirklich ganz unten.“ Melzer sagt, dass er großen Respekt vor Leuten hat, die unter den sozialen Verwerfungen anständig geblieben sind. „Ich kenne einige Leute, die sich alles hart erarbeitet haben.“ Melzer schildert ein Erlebnis in einem Krankenhaus, wo er mit Verdacht auf Leistenbruch landete. „Als meine 5000 Pesos durch die Untersuchungen verbraucht waren, haben die mich weggeschickt. Dann stehst du da und es tut weh.“

Tobias Melzer hatte zu Beginn ein Touristenvisum für 180 Tage. „In der Zeit musste es klappen. Und es hat geklappt.“Der Sozialpädagogen forscht heute in Mexiko an zweieinhalb Tage pro Woche. Die andere Zeit ist er dabei, Geld heranzuschaffen, um sein Leben zu finanzieren. Große Firmen lassen bei ihm ihre Mitarbeiter Deutsch lernen und Texte übersetzen. Melzer lebt und arbeitet mit Mexikanern zusammen. „Wir haben dafür eine Kooperative gegründet.“

Im Mittelpunkt seiner Arbeit stehen die Briefe, Interviews und Fotos, die Renata von Hanffstengel angesammelt hat. Die heute 85-Jährige hatte ein Interkulturelles Forschungsinstitut Mexiko-Deutschland gegründet. Ihrer riesigen Wohnung sei voller Archivmaterial. Melzer will verhindern, dass es nach ihrem Tod verloren geht. „Kürzlich ist mir ein Brief von Albert Einstein in die Hände gefallen. Er bittet darin um Asyl für eine österreichische Wissenschaftlerin“, sagt er. Für Land und Leute hat Melzer wenig Zeit, gibt er zu. „Aber wenn man das Geld zum Reisen hat und die Region sicher ist, dann ist das Land wunderschön.“ Irgendwann will er aber wieder nach Deutschland zurückkommen.