Merken

Als sich die Hölle auftat

Dieter Liebig beschreibt in seinem Roman den größten Brand im Tagebau Berzdorf. Ein gekürzter Auszug.

Teilen
Folgen
© Jens Trenkler

Schönau-Berzdorf. Plötzlich erstarb das Singen der Vögel, das Summen der Bienen. Georg Warners Schafe erstarrten. Es war ein Geräusch zu hören, als wenn ein Diskus die Luft schnitt, über alles hin. Dann war es, als wenn die Luft in der Ferne angesaugt würde. Ein Grunzen, Schnauben, Brüllen ertönte, als würden alle Tiergattungen zur Schlachtbank getrieben. Dann gab es einen Schlag wie von einer überdimensionalen Uhr. Ein Rauschen folgte, dann eine Bodenbewegung wie eine Welle. Der Pfarrer stürzte zu Boden.

Ein Bild von 2002: Das stillgelegte Kohle-Tagebaugebiet Berzdorf.
Ein Bild von 2002: Das stillgelegte Kohle-Tagebaugebiet Berzdorf. © SZ-Archiv

Jetzt gellten die Sirenen. Warner stand auf, rannte an seinen vor Schreck starren Schafen vorbei auf die Straße. Alle Einwohner standen dort, ebenso vom Schrecken getroffen. Rauch stieg auf. Einige Öfen hatten ihr Feuer ausgespuckt und die Häuser angezündet. Die Feuerwehren hatten reichlich zu tun. Einwohner, die von der Bahnhofstraße herbeigeeilt kamen, erzählten, der Mittagszug sei aus den Schienen gesprungen. Es gebe Verletzte. Und schon sausten Krankenwagen heran. Polizei war von Beginn an da.

Von der Grube her zogen jetzt stahlblaue Rauchwolken heran. Die nahmen einem den Atem. Es war, als wenn ein riesiger Ofen, in dem das Kohlenfeuer nur schwelte, geborsten wäre. Mephistopheles stand neben Warner und sagte mit Kennermiene: „Die Hölle hat sich aufgetan.“ Im Gegensatz zu allen anderen war er vor Ort gewesen. Er wollte nur den ersten Eindruck wiedergeben: „Unterhalb von Jauernick ist eine gewaltige Rutschung abgegangen. Zig Tonnen sind vom Granit abgerissen. Die alten Bäume, die oben standen, kannst du jetzt als Miniaturen bewundern.“ Durch den Druck sei das Kohleflöz gehoben worden und mit Luft in Berührung gekommen. Durch die Reibung habe es sich entzündet. „Das wird tief nach unten gehen“, meinte Mephistopheles.

Die Rutschung bekam den Namen „P“. Alle bisherigen Rutschungen hatten dem Alphabet nach Buchstaben erhalten. Allerorten herrschte Aufregung und Empörung. In Hagenwerder kochte die Stimmung hoch. Die Männer, die vorn in der brennenden Kohle eingesetzt waren, empörten sich über die unmenschlichen Bedingungen, denen sie ausgesetzt waren: Hitze, Stickluft und ständige Erdverschiebungen. Von „lebensgefährlich“ redete schon keiner mehr, so allgegenwärtig war die Bedrohung.

Die Rutschung hatte die Baggeranlage weggeschoben. Damit war ein wichtiges Transportmittel im weiteren Tagebauvorfeld ausgefallen. Lastkraftwagen mussten das jetzt bewerkstelligen. In der Rutschung waren es Kettenfahrzeuge, deren Kraftstoffleitungen wie auch der Tank ständig gekühlt werden mussten. Am gefährlichsten lebten die Raupenfahrer, sie mussten die rauchende und entzündliche Kohle aufschieben.

...

Sie näherten sich der Rutschung P. Der Wagen musste immer wieder Aufschüttungen ausweichen. Einen Weg gab es nicht. Sie fuhren an einer zertrümmerten Bandanlage vorbei. Große Betonbrocken lagen herum, als hätte sie jemand wahllos verstreut. Erster Rauch kam ihnen entgegen, der Warner bereits in die Nase stach. Dann war er am Ort des Geschehens. Der Rauch war so dicht, dass man das „Eisenschwein“ wie durch dichten Nebel nur als Schemen erkennen konnte. Warner wurde durch giftige Dämpfe gewürgt. Er musste sich ein Taschentuch vor Mund und Nase halten. Überall züngelten Flammen hoch, mit denen Raupen befasst waren. Wenn sie die Fläche weithin freigeschoben hatten, brach hinter ihnen sofort wieder die Erde auf und das Geschiebe begann von vorn.

Er stieg die Eisenleiter zum Bagger hinauf. Im Inneren meinte Warner, sich übergeben zu müssen. Vincent war heran und reichte ihm eine Flasche Milch. Die Milch beruhigte tatsächlich etwas die von der ätzenden Luft gereizten Schleimhäute. Warner sah, dass hier Milch in Kästen aufgereiht stand. Vincent ließ es sich nicht nehmen, darauf zu verweisen, dass dies das einzige Heilmittel sei, das man für die Kumpel übrig habe.

Vincent nahm vor seinen Hebeln und der Schalttafel Platz. Über Mikrofon gab er Anweisungen. Das „Eisenschwein“ begann zu arbeiten. Und da sah Warner voller Entsetzen, dass die Schaufeln glühten. Sie griffen in zwar gerutschtes, aber noch nicht aufgerissenes Erdreich.

Links neben dem „Eisenschwein“ stand eine Raupe still, die sonst wohl sofort das zur Seite gerollte Material wegschob. Warner entdeckte, dass sich ein Schlosser an ihr zu schaffen machte. Plötzlich zog sich ein Riss durch den Boden, der sich im Nu verbreiterte. Die Raupe sackte bis über die Ketten ein. Vincent, dem nichts entging, hatte einen Fluch auf den Lippen. In rascher Folge ertönten Kommandos. Das „Eisenschwein“ drehte sich schließlich. Der Arm, über den sonst der Abraum hinter dem Bagger lief, schwenkte herum.

Die Raupe war jetzt schon bis zur Hälfte des Fahrerhauses im rauchenden Boden eingesackt. Raupenfahrer und Schlosser standen auf dem Dach. Wie Zirkusartisten ergriffen sie den vorbeischwebenden Baggerarm. Die Raupe versank im Boden. Beide krochen jetzt bis zum Führerhaus, von dem aus der Ausleger gesteuert wurde. Nach wenigen Minuten standen sie vor Georg, der kreidebleich geworden war.