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Alles auf die grüne Karte

Es gab eine Zeit, da hatte Spitzenkandidatin Antje Hermenau nur Karriere im Kopf. Heute weiß sie, was wahrer Luxus ist.

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© Eric Münch

Von Henry Berndt

Sie kommt in Schwarz. Ausgerechnet. Schnell heftet sich Antje Hermenau noch einen grünen Button ans Revers, und dann wird gearbeitet. Wahlkampf ist angesagt, an diesem Tag vor der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek in Dresden. Der Regen hat sich verzogen. Ein Stündchen wird die Chefin jetzt persönlich hier am Stand stehen und versuchen, Studenten von der Bedeutung der Briefwahl zu überzeugen. Als Werbegeschenke gibt es Pins mit Fröschen, Traubenzucker („mehr grüne Energie“) und Brausepulver („gegen Auflösung der Privatsphäre“).

Obwohl ihre Präsenz fast greifbar ist, scheint kaum jemand aus der vorbeieilenden Bildungselite Antje Hermenau zu erkennen. Keiner ruft aufgeregt: Sie sind doch die von den Plakaten! Nur 41 Prozent der Sachsen ist die Spitzenkandidatin ein Begriff, ergab jüngst eine SZ-Umfrage. Damit ist sie immerhin schon bekannter als Rico Gebhardt (Linke) und Frauke Petry (AfD). Wahlkampf in Sachsen ist dennoch oft ein hartes Brot, wenn man nicht Stanislaw Tillich heißt.

Viele gehen wortlos an ihr vorbei, obwohl sie ihnen lächelnd und offensiv eine grüne Karte mit wichtigen Wahlhinweisen unter die Nase hält. Ein Karten-verteil-Ziel hat sie nicht. „Wir sind doch hier nicht bei der Drückerkolonne“, sagt sie. „So verzweifelt sind wir nicht.“

Jetzt nimmt Hermenau eine Studentin mit Band im Haar ins Visier. „Haben Sie schon an die Briefwahl gedacht?“, fragt sie. „Nee“, antwortet die ohne abzubremsen. „Nee, keen Bock?“, ruft Hermenau ihr hinterher und lacht laut auf. Ältere Leute erkennen sie eher, sagt sie, in der Straßenbahn oder beim Einkaufen. Dann wird sie auch schon mal entrüstet gefragt, warum denn um die Ecke schon wieder ein Baum gefällt worden sei.

Der Wahlkampf hat früh begonnen in diesem Jahr. Gewerkschaften und Verbände wollten ihre Versammlungen und Foren möglichst noch vor den Sommerferien hinter sich bringen. Hermenau war viel unterwegs. Allein in sieben Städten stand der Briefwahlstand – die Urlauberstimmen sind diesmal noch wichtiger als sonst. „Wir brauchen die Massen, eine hohe Wahlbeteiligung. Schwarz-Gelb wollte sich ja durchmogeln“, sagt sie. Damit meint sie den Wahltermin, der nicht zufällig auf das Wochenende nach den Ferien gelegt worden sei. Allzu böse Kritik an der Regierung lässt sich Hermenau sonst nicht entlocken. Auch sie kennt die Umfragen, die derzeit nicht gerade für grüne Wunschkonstellationen sprechen.

Mitregieren würde sie aber jetzt schon gern mal, nach zehn Jahren in der Opposition. Die neue Doppelspitze mit ihr und Volkmar Zschocke soll es richten. „Wir sind mal dran“, findet sie. Über mögliche Koalitionen nach der Wahl redet Hermenau allerdings ungern, lieber von „ungenutzten Potenzialen“. Ihre sanften Bande zur CDU haben ihr parteiintern schon genug Diskussionen beschert.

Keine Frage, ihre eigenen Potenziale hat Antje Hermenau stets zu nutzen gewusst. Mehr als das: Dem kleinen Mädchen aus einer zerrütteten Leipziger Familie hätte wohl niemand eine solche Karriere zugetraut. Ihr Vater wollte sie einst vom Abitur abhalten, weil das in seiner Familie nicht üblich sei. „Die einfachen Verhältnisse sind häufig die kompliziertesten“, sagt sie.

Schon früh weiß sie: Hier will ich raus. In der 1. Klasse lässt sie sich in der Bibliothek anmelden, ohne überhaupt schon alle Buchstaben zu kennen. Als ihr Vater die Familie verlässt, übernimmt sie mit 14 selbst die Führung daheim. In der Schule lernt sie Salma kennen, die Tochter des kurdischen Schriftstellers Adel Karasholi, der aus Syrien in die DDR ausgewandert war. Bald verbringt sie immer mehr Zeit bei ihm, statt zu Hause. Adel wird wie ein Vater für sie, Salma wie eine Schwester. Die enge Verbindung hat bis heute gehalten. Erst vor wenigen Wochen feierte Hermenau gemeinsam mit den Karasholis in Dresden ihren 50. Geburtstag.

Immer mehr wuchs sie in ihre neue Familie, während sie ihre eigene verlor. Ihr Bruder starb 1988 mit 20 Jahren bei einem Motorradunfall, sieben Jahre später beging ihre Schwester Selbstmord. Danach brach Hermenau endgültig mit ihrem Vater. Auch er lebt nicht mehr, ebenso wie ihre Mutter, die sie über alles liebte. Sie starb 2009 an Krebs. Auf Abschiedsreise fuhren sie gemeinsam nach Italien, machten noch ein Foto in den Bergen. „Ich bin nicht verbittert oder depressiv und habe alles aufgearbeitet. Das belastet mich nicht mehr“, sagt Hermenau heute. „Und ich habe das Glück, dass ich mir meine Familie aussuchen kann.“

Damals in Leipzig vertiefte sie sich immer mehr in die Bücher, las die antiken Philosophen, verbrachte dafür mit 18 ganze Wochenenden in der Deutschen Nationalbibliothek und lernte mehrere Fremdsprachen. Am liebsten hätte sie ja Archäologie studiert, doch da sie Westverwandtschaft hatte, durfte sie nicht. Also wurde sie eben Lehrerin – und mit der Wende Politikerin. Die Karriereleiter stand bereit: Schon bei der Gründung des sächsischen Grünenverbandes 1990 saß sie mit am Tisch. Viere Jahr später wechselte sie in den Bundestag, wurde haushaltspolitische Sprecherin und später von Außenminister Joschka Fischer zur „Jeanne d’Arc der Haushaltspolitik“ geadelt. Damals habe sie Tag und Nacht gearbeitet, pendelte zwischen Dresden, Bonn und Berlin. Nicht selten sei sie 3 Uhr mit dem Zug angekommen und habe 9 Uhr im Bundestag gesessen. „Ich wollte immer besser werden“, sagt sie. Dafür testete sie ihre physischen Grenzen aus – und büßte zwei Bandscheiben ein.

Heute erlebt die Welt eine andere Antje Hermenau. Eine, die gern mit ihrem siebenjährigen Sohn „Mensch ärgere dich nicht“ und Rommé spielt. „Beim Memory gewinnt er jetzt schon“, sagt sie. Keine Sekunde habe sie bereut, vor zehn Jahren zurück nach Sachsen gekommen zu sein. „Ich wurde früher schon mitleidig angeguckt, als sei das ein Karriererückschritt“, sagt sie. „Dabei bin ich doch jetzt viel näher dran an den Ergebnissen meiner Arbeit.“ 2004 holte sie die sächsischen Grünen nach zehn Jahren zurück in den Landtag, auch 2009 war sie Spitzenkandidatin. Damals gab es viel Knatsch und am liebsten hätte sie hingeworfen. Inzwischen aber passe das Team wieder zusammen – und soll nun mit „8 Prozent plus X“ belohnt werden, hofft sie.

Ambitioniert ist Hermenau geblieben, doch entscheidend gelassener geworden. Ihr Sohn, den sie mit 42 bekam, spielt dabei eine große Rolle. Heute zieht sie ihn allein groß – und fühlt sich freier als je zuvor, wie sie sagt. Die Sommerferien verbrachten die beiden auf einem Bauernhof am Chiemsee. Zwischendurch eilte sie Ende Juli zurück nach Sachsen und hängte eigenhändig Wahlplakate auf. Das macht einen volksnahen Eindruck – birgt allerdings auch Verletzungsgefahr. Prompt riss sie sich das Kreuzband und landete in der Notfallaufnahme. Mangelnden Einsatz dürfte ihr so schnell niemand vorwerfen.

In Antje Hermenaus anderer Welt, in einem Garten in Dresden-Trachenberge, bauen sie und ihr Sohn in diesem Sommer Erdbeeren, Gurken und Salat an. „Diese Balance sehe ich als Luxus in meinem Leben“, sagt sie. „Wer gut regieren will“, da ist sie sich heute sicher, „der braucht lebensfrohe Menschen, die in sich ruhen.“

Am Montag lesen Sie an dieser Stelle ein Porträt des SPD-Spitzenkandidaten Martin Dulig.

Die wichtigsten Infos zur Landtagswahl mit Kandidaten, Beiträgen, dem Video zur Wahldebatte und dem Wahl-O-Mat gibt es hier.